»Ich glaube kaum, daß du das kannst«, antwortete Mark. Irgendwo hinter ihnen wurde ein Wagen angelassen, aber ansonsten war es fast unheimlich still. Selbst der monotone Techno-Rhythmus aus dem HADES blieb schon nach wenigen Schritten hinter ihnen zurück.
»Wer weiß«, sagte Beate. »Und wenn ich dir jetzt sagen würde, daß dein Vater recht hat?«
»Dann wäre es mir egal«, antwortete Mark impulsiv. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Sagst du es denn?«
Beate lachte kurz. »Weißt du was, Mark? Du tust wirklich alles, um die Dinge schlimmer zu machen. Wußtest du, daß in jedem Menschen der Drang zur Selbstzerstörung steckt? Ich glaube, du hast gerade einen ziemlich heftigen Anfall davon.«
Sie gingen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, dann sagte Mark: »Aber ich habe es ernst gemeint. Es wäre mir wirklich egal.«
»Heute«, sagte Beate. »Morgen vielleicht auch noch. Und dann?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß wir dieses Gespräch fortsetzen sollten. Begleitest du mich noch bis zur U-Bahn?«
»Ich habe mich entschuldigt, oder?« fragte Mark - natürlich schon wieder in schärferem Ton, als erstens angemessen war und er zweitens selbst beabsichtigt hatte. »Was soll ich noch tun? Auf die Knie fallen und dich um Vergebung bitten?«
Sie hatten das Ende der Straße erreicht und blieben einen Moment stehen, Beate sah sich suchend um und deutete dann nach links. »Irgendwo dort hinten ist ein Taxistand«, sagte sie. »Ich schaffe den Rest schon allein. Wenn du willst, kannst du mich ja in den nächsten Tagen anrufen. Ich habe bis Ende der Woche Frühschicht.«
Sie drehte sich herum und begann mit plötzlich schnellen Schritten die Straße hinunterzugehen. Mark blieb eine halbe Sekunde lang wie erstarrt stehen, aber dann eilte er ihr nach, holte sie ein und riß sie mit einer fast schon groben Bewegung herum.
»Du gehst nirgendwohin«, sagte er. »Jedenfalls nicht so.«
»Ach?« fragte Beate. Sie riß sich los, wich aber erstaunlicherweise nicht vor ihm zurück. »Und warum nicht?«
»Weil...« Mark suchte vergeblich nach Worten. Weil er nicht wollte, daß sie ging? Weil er sie brauchte wie keinen anderen Menschen auf der Welt? Weil er das Gefühl hatte, sie seit Jahren zu kennen, obwohl es in Wahrheit gerade erst zwölf oder vierzehn Stunden waren?
»Weil ich es nicht möchte«, sagte er schließlich. »Gib mir noch eine Chance, okay? Ich werde damit fertig, aber nicht allem.«
Beate schwieg, aber irgend etwas geschah in ihrem Blick. Was war das, was er darin las? Triumph? Vielleicht, aber auch noch mehr - etwas... Vertrautes, etwas Altes und ungemein Bekanntes, das ihn plötzlich und ohne Vorwarnung mit einem Gefühl von Geborgenheit erfüllte, das ihn hilflos machte. Worte waren plötzlich überflüssig - mehr noch: Er hatte mit Worten an diesem Tag schon so viel zerstört, daß sie nur schaden konnten. Ohne etwas zu sagen, streckte er erneut die Hände aus, zog sie an sich und hielt sie für einen Moment so fest, daß er ihr den Atem abschnüren mußte. Trotzdem versuchte sie nicht, sich zu wehren.
Ihre Gesichter waren sich jetzt ganz nahe, und es war eine vertraute Nähe, so vertraut, als wären sie nicht länger zwei Menschen, sondern nur zwei Hälften eines Ganzen, die gewaltsam getrennt und nun endlich wieder zusammengefügt worden waren. Ihre Lippen berührten sich, und es war tatsächlich wie in allen kitschigen Liebesgeschichten, die er jemals gehört hatte: Im gleichen Augenblick, in dem sie sich küßten, schien eine lautlose Explosion seinen Körper bis in die letzten Nervenenden zu durchrasen. Sie waren eins. Sie - In Beates Augen flammte es auf, und im gleichen Moment erstrahlten ihre Züge in einem unheimlichen, hellen Glanz, der ihr Gesicht zu einem grellweißen Schemen mit auseinanderfasernden Konturen machte.
27. Kapitel
Bremer trat mit aller Gewalt auf die Bremse, aber seine Reaktion kam zu spät. Die Reifen des Audi blockierten, aber der Wagen rutschte trotzdem weiter und kollidierte unsanft mit dem Kotflügel des BMW, der so urplötzlich vor ihm aufgetaucht war. Der Aufprall war nicht einmal besonders hart, aber Bremer hatte keine Zeit gehabt, sich anzuschnallen. Er wurde nach vorne geworfen und prallte mit voller Wucht mit Stirn und Wangenknochen auf das Lenkrad.
Für einen Moment war er benommen. Er schmeckte Blut, und vor seinen Augen wirbelten dunkelrote Glühwürmchen, die winzige Schmerzpfeile auf seine Netzhäute abschössen. Bremer versuchte sie wegzublinzeln, aber ganz gelang es ihm nicht. Er blieb noch zwei oder drei weitere Sekunden benommen, in denen sein Sehvermögen zwar allmählich zurückkehrte, er aber weiter hilflos war. Der Motor des Audi war ausgegangen, aber er sah, daß die Wucht des Zusammenstoßes trotz der relativ geringen Geschwindigkeit ausgereicht hatte, den anderen Wagen einen guten Meter zur Seite zu schieben. Die hintere Tür war wieder zugefallen und hatte offensichtlich das Bein des Mannes eingeklemmt, der hinausspringen wollte, denn der Bursche krümmte sich auf dem Rücksitz. Von dem zweiten Mann keine Spur.
Bremer stemmte sich mühsam in die Höhe, tastete mit den Fingerspitzen über das Gesicht und fühlte Blut aus einer langen Platzwunde über dem linken Auge sickern, aber keinen Schmerz. Er mußte wohl so etwas wie eine leichte Gehirnerschütterung haben, denn in der allerersten Sekunde erinnerte er sich zwar, was geschehen war, konnte mit diesem Wissen aber nichts anfangen. Er sah eine Gestalt hinter dem BMW auftauchen und mit weit ausgreifenden Schritten auf seinen Wagen zueilen, und etwas an diesem Anblick war sehr beunruhigend, aber er wußte nicht, warum.
Als es ihm wieder einfiel, war es zu spät. Die Tür wurde aufgerissen, und Bremer fühlte sich brutal gepackt und aus dem Wagen gezerrt. Sein rechtes Knie prallte mit solcher Wucht gegen die Lenksäule, daß er aufschrie und ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Trotzdem versuchte er, nach seiner Waffe zu greifen.
Es blieb bei dem Versuch. Bremer wurde roh in die Höhe gerissen und so brutal gegen den Wagen geschleudert, daß ihm die Luft wegblieb. Die Pistole entglitt seinen Fingern und klapperte zu Boden. Vor seinen Augen tanzten schon wieder dunkelrote Glühwürmchen, und die Straße schwankte vor ihm auf und ab wie das Deck eines Schiffes, das in einen Orkan geraten war. Er versuchte, die Arme in die Höhe zu reißen, um sein Gesicht zu schützen, und der andere nutzte diesen Fehler entweder gnadenlos aus, oder er deutete die Bewegung falsch, als Angriff, denn seine Faust landete mit solcher Wucht in Bremers Magengrube, daß er stöhnend zusammenbrach und dann vornüber aufs Straßenpflaster sank. Bitterer Speichel sammelte sich unter seiner Zunge. Ihm war furchtbar übel, und für einen Moment war seine größte Angst, daß er sich übergeben mußte und mit dem Gesicht in seinem eigenen Erbrochenen liegen würde. Bremer schluckte ein dutzendmal hintereinander und sehr hektisch, bis seine Mundhöhle damit aufhörte, bittere Galle gleich literweise zu produzieren. Dafür breitete sich in seinem Magen ein leichtes Übelkeitsgefühl aus, aber damit konnte er fertig werden.
Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war ein Paar auf Hochglanz polierter teurer Schuhe, das unmittelbar vor seinem Gesicht in die Höhe ragte und scheinbar nahtlos in die Beine eines mindestens ebenso kostspieligen Maßanzuges überging. Bremer drehte sich mühsam auf die Seite, sah den Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, einen Moment lang aus immer noch leicht umnebelten Augen an und setzte sich dann auf. Sein Blick streifte dabei die Pistole, die ihm aus den Fingern geglitten war. Sie lag allerhöchstens anderthalb Meter von ihm entfernt, noch dazu in einer so günstigen Position, daß er sich nur nach rechts fallen zu lassen brauchte, um sie zu erreichen.
»Versuchen Sie es lieber erst gar nicht. Ich möchte Sie nicht verletzen.«
Bremer sah hoch und blickte in ein kräftiges, aber noch erstaunlich junges Gesicht. Der Bursche war höchstens Mitte Zwanzig.