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Der Gedanke löschte auch noch den letzten Rest von Selbstbeherrschung in ihm aus. Mit einem gellenden Wutschrei stürzte er sich auf den zweiten Angreifer, der ihn geschlagen hatte, nahm einen weiteren, noch härteren Hieb hin und schlug zurück, noch während der Schmerz in seinem Gesicht explodierte. Der Bursche stolperte zurück, aber es war wie vorhin in der Diskothek: Er war viel mehr überrascht als wirklich getroffen, und er erholte sich sehr viel schneller, als Mark glaubte. Als er erneut zuschlagen wollte, duckte er sich mit fast spielerischer Leichtigkeit unter seinem Hieb weg und versetzte ihm gleichzeitig einen Schlag in den Leib, der Mark nach Luft schnappend zusammenbrechen ließ. Er hatte vielleicht den Zorn eines wütenden Gottes, aber nicht dessen Kraft.

Irgendwie gelang es ihm, wieder hochzukommen, aber das war auch alles. Beate schrie noch immer und wehrte sich verzweifelt, Sie schlug und trat mit aller Gewalt um sich, aber der Kerl hatte sie so geschickt gepackt, daß sie nicht traf. Beinahe mühelos zerrte er sie zum Wagen und stieß sie grob auf die Rückbank. »Verdammt, worauf wartest du?« brüllte er, »Bring den Jungen!«

Die Worte galten dem Burschen, der Mark angegriffen hatte. Er reagierte, aber nicht sofort, und auch völlig anders, als Mark erwartet hatte. Mark war jetzt völlig wehrlos. Er stand einfach da, und alle Kraft, die er überhaupt noch aufbringen konnte, reichte gerade aus, um sich auf den Beinen zu halten, nicht einmal, um wirklich klar zu sehen. Trotzdem zögerte der Mann, ihn zu packen. Er hatte die Hände nach ihm ausgestreckt, aber irgend etwas... hielt ihn zurück.

Angst.

Mark sah mühsam auf und blickte in sein Gesicht, und was er in seinen Augen las, das war das tiefste Entsetzen, das er jemals im Blick eines Menschen gesehen hatte, ein Gefühl, wie es nur das absolute Grauen hervorrufen konnte, eine Angst, die stark genug war, zu töten.

Angst vor ihm.

Vor dem Ding in ihm.

Es war noch da. Die namenlose, schwarze Kraft, die er aus seinen Träumen mitgebracht hatte, sie war da, und jetzt war sie real, und der andere konnte sie sehen. Mark wußte nicht, was er sah - sicher etwas ganz anderes als das, was er erblickt hatte während seiner Visionen -, aber was immer es war, es war mehr, als er ertragen konnte. Vielleicht mehr, als irgendein Mensch ertragen konnte. Seine Hände blieben weiter wie in einer grotesken Pantomime nach Mark ausgestreckt, aber er wich trotzdem vor ihm zurück, taumelte einen, zwei, drei Schritte rückwärts, bis er gegen den Wagen stieß, und begann zu schreien.

Und endlich begriff Mark seine Chance.

Plötzlich hatte er keine Angst mehr. Es war niemals nötig gewesen, Angst zu haben. Die schwarze Kreatur in ihm war nie sein Feind gewesen.

»Laßt sie los!« sagte er. »Laßt sie sofort los!«

Etwas von der Kraft des Alptraumungeheuers floß in seinen Körper. Nicht viel, aber doch genug, daß er sich von der Wand abstoßen und auf den Wagen zugehen konnte. Der Kerl, der ihn angegriffen hatte, schrie noch immer. Sein Gesicht war zu einer unmenschlichen Grimasse verzerrt, und seine Schreie glichen eher dem Brüllen eines gequälten Tieres. Im gleichen Moment sah auch der Mann hinter dem Steuer des BMW auf, und als er in Marks Gesicht blickte, begann auch er zu schreien. Mark machte einen weiteren Schritt. Er hatte keine Angst mehr. Weder vor seinen Träumen noch vor diesen Männern, die sein Vater geschickt hatte. Angst? Wovor? Es gab nichts auf der Welt, was er fürchten mußte. Keine Gewalt des Universums vermochte ihm Schaden zuzufügen. Er war der Todesengel, begriffen sie das denn nicht?

Er machte einen weiteren Schritt. »Laßt sie los!« befahl er noch einmal. In der Hand des Burschen vor ihm lag plötzlich eine Pistole, aber er lachte nur darüber. Sie wollten ihn töten? Ihn? Azrael, den Herrn des Todes? Wußten sie denn nicht, wie närrisch das war?

Die Kugel durchschlug Marks Arm und prallte mit solcher Wucht hinter ihm gegen die Wand, daß sie als Querschläger davonheulte. Im ersten Moment spürte er kaum Schmerz, ja nicht einmal wirklich den Aufprall, sondern nur einen fast sanften Schlag, dem eine Woge kribbelnder Betäubung folgte, die sich rasch seinen Arm hinunter bis in die Fingerspitzen und in die andere Richtung hinauf bis in den Hals und die linke Hälfte seines Gesichts fortsetzte. Beinahe verblüfft sah er an sich herab und sah Blut - eine erstaunliche Menge erstaunlich hellen Blutes - an seinem Unterarm hinablaufen und zu Boden tropfen, und dann, erst durch diesen Anblick ausgelöst, explodierte der Schmerz in seinem Arm.

Es war unvorstellbar. Mark schrie, prallte rücklings gegen die Wand und sackte zu Boden. Sein Arm stand in Flammen. Sein ganzer Körper war ein einziger pulsierender Schmerz, jeder einzelne Nerv darin ein weißglühender Draht, der sich zischend in sein Fleisch sengte. Mark krümmte sich in wilder Agonie, preßte die unverletzte Hand auf die Wunde und spürte, wie heißes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, Blut, das seine Haut zu verbrennen schien wie Säure und seine Qual noch steigerte, Er hörte, wie der Wagen mit durchdrehenden Reifen losschoß, aber er war unfähig, irgend etwas zu tun. Er mußte ihn aufhalten. Er mußte sie aufhalten. Sie hatten Beate.

Langsam wurde ihm schwarz vor Augen. Der Schmerz verebbte, nicht völlig, aber er war jetzt nicht mehr so schlimm, daß er ihn um den Verstand zu bringen drohte, aber an seiner Stelle machte sich eine fast noch schlimmere Übelkeit in ihm breit. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, begann sich alles um ihn zu drehen. Sie hatten Beate.

Mark stand auf. Sein Arm pulsierte und Jagte Wogen unerträglicher weißglühender Schmerzen in seinen ganzen Körper - die Straße wand und bog sich vor seinen Augen wie ein Bild in einem rotgefärbten Zerrspiegel. Er sah, wie der Wagen zwanzig oder dreißig Meter entfernt mit kreischenden Reifen in eine Seitenstraße einbog, und rannte in die gleiche Richtung. Auf halber Strecke überholte ihn ein Wagen, der dem, der Beate und ihn angegriffen hatte, bis ins letzte glich, aber auch das bemerkte er kaum noch. Er hatte keine Kraft mehr dafür, an irgend etwas anderes zu denken als an Beate und daran, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Irgendwoher nahm er den Willen, schneller zu laufen, mit jedem Schritt ein bißchen schneller als mit dem zuvor, obwohl er eine breite Spur aus hellrotem Leben hinter sich herzog, das aus der Wunde in seinem Bizeps sprudelte. Jeder weitere Schritt konnte ihn töten, aber das war ihm gleich. Was zählte, war nur dies: Sie hatten sie. Er rannte noch schneller, erreichte die Straße und bog taumelnd in den schmalen Seitenweg ein. Nicht weit vor ihm standen zwei nahezu identische blaue BMW, der eine ein Zwilling des anderen, der seinem Bruder blindlings in die gleiche Falle gefolgt war, in die sein Fahrer sich in seiner Panik selbst hineinmanövriert hatte, denn die von hohen, fensterlosen Backsteinmauern gesäumte Straße endete nach weniger als zwanzig Metern vor einer gleichartigen, wenn auch nur drei oder vier Meter hohen Wand. Es war eine Sackgasse.

Auch Mark blieb stehen. Schwäche überflutete ihn wie eine betäubende Zentnerlast, ihm wurde erneut übel, und in seinem Kopf begann eine ganz leise Stimme zu flüstern, eine Stimme, die ihm erzählte, daß das, was er tat, Wahnsinn war. Vor ihm standen zwei Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern und laufenden Motoren, Wagen voller Männer, von denen ihn jeder einzelne mit bloßen Händen töten konnte, und die Pistolen hatten, und vermutlich auch Messer und andere, tödlichere Dinge, und keine Hemmungen, sie einzusetzen. Aber es war gleich. Was zählte, war nicht mehr, wer sie waren oder was. Was zählte, war nur, warum sie hier waren.