Angesichts der Situation, in der er sich befand, waren diese Gedanken schon absurd - zumindest aber so abwegig, daß es ihm selbst auffiel. Prompt meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er hätte jetzt Bedauern verspüren sollen, angesichts des Lebens, das hier so sinnlos weggeworfen worden war, oder doch zumindest deutlich mehr Mitgefühl für seinen Kollegen, der auf der anderen Seite des demolierten Daimler im Rinnstein hockte und sich noch immer die Seele aus dem Leib kotzte. Aber für den Toten empfand er eigentlich nur Verachtung, und was Hansen anging, so überwog seine Erleichterung, daß der es gewesen war, der die ganze Schweinerei abbekommen hatte, sein Mitleid bei weitem. Dabei war Bremer an sich alles andere als kaltschnäuzig oder gar ein Zyniker. Vermutlich, dachte er, war dies wohl seine Art, mit dem Entsetzlichen fertig zu werden. Auch er stand wohl noch unter einer Art Schock, auch wenn er keine der üblichen äußeren Anzeichen dafür spürte. Weder zitterten seine Hände und Knie, noch war ihm kalt oder fühlte er sich irgendwie benommen. Doch er hatte das erste Mal seit zwei Jahren wieder Appetit auf eine Zigarette, einen regelrechten Heißhunger sogar. Einen Moment lang erwog er ernsthaft den Gedanken, zum Krankenwagen hinüberzugehen und den Arzt um eine Zigarette zu bitten. Dem Mann war es wahrscheinlich ebenso untersagt wie ihm, in der Öffentlichkeit zu rauchen, solange er in Uniform und im Dienst war, aber angesichts dessen, was er hier erlebt hatte, pfiff er wohl auf diese Vorschrift, denn er qualmte ununterbrochen, und seine Hände zitterten sichtbar. Der Selbstmörder war immerhin zuvorkommend genug gewesen, auf das Eintreffen des Krankenwagens zu warten, ehe er sprang. Und der Arzt war noch relativ jung. Auf keinen Fall alt genug, um so etwas schon öfter erlebt zu haben.
Wahrscheinlich war das niemand, dachte Bremer und verwarf zugleich auf einer zweiten, parallellaufenden Ebene seines Bewußtseins die Idee, nach zwei Jahren wieder mit dem Rauchen zu beginnen. Sein Verlangen nach einer Zigarette war stärker denn je, aber er würde diesem Trottel verdammt noch mal nicht auch noch den Gefallen tun und nach so langer Zeit wieder mit dem Laster beginnen, das er sich so mühsam abgewöhnt hatte.
Erneut fiel ihm auf, wie vollkommen lächerlich das war, was in seinem Kopf vorging. In Anbetracht dessen, was er eigentlich tun sollte. Also wohl doch, so eine Art Schock - was ja auch nur verständlich war. Noch vor fünf Minuten hatte Bremer geglaubt, daß es nicht mehr viel gäbe, was ihn noch erschrecken konnte. In achtzehn Jahren Streifendienst bekam man so ziemlich alles an Gewalt und Perversitäten zu Gesicht, was man sich nur vorstellen konnte, und auch das eine oder andere, was man sich eigentlich nicht vorstellen konnte.
Aber das war vor fünf Minuten gewesen, bevor dieser Idiot sich von seinem Balkon im achten Stock gestürzt und sowohl seinem Leben als auch der Existenz eines nagelneuen Daimler Benz der S-Klasse ein ebenso dramatisches wie abruptes Ende gesetzt hatte. So ganz nebenbei hatte er Bremer und seinen Kollegen dabei auch in akute Lebensgefahr gebracht. Hätte er nicht so zielsicher den Wagen getroffen, sondern wäre einen einzigen Meter weiter rechts oder links heruntergekommen ...
Bremer brach den Gedanken mit einer bewußten Anstrengung ab. Er gab sich zwar selbst einen gewissen Dispens, aber er mußte trotzdem aufpassen, daß er nicht hysterisch wurde.
Er sah auf die Uhr. Zwei - und damit seine Schicht - war seit zehn Minuten vorbei. Bremer seufzte. Hansen und er waren auf dem Weg zum Revier gewesen, als der Funkspruch kam. Hätte der Selbstmörder noch ein paar Augenblicke gewartet, dann wäre er jetzt schon auf dem Weg nach Hause mit der Aussicht auf ein kaltes Bier und eine kleine Mahlzeit aus dem Kühlschrank. Vielleicht hätte er sich auch noch einen Film aus der Videothek mitgenommen, die auf dem Weg lag, und vielleicht...
Zu viele Vielleicht, dachte er. Nicht vielleicht, sondern mit ziemlicher Sicherheit würde diese Nacht noch verdammt lang werden. Er strich die Aussicht auf einen Clint-Eastwood-Film ebenso aus seinem Plan für den Rest der Nacht wie die auf eine Mahlzeit oder gar ein kaltes Bier. Wenn die Sache hier sich auch nur halb so entwickelte, wie er fürchtete, dann konnte er froh sein, wenn er überhaupt noch Zeit fand, nach Hause zu fahren und sich ein paar Stunden aufs Ohr zu legen, statt gleich dazubleiben und seine nächste Schicht anzutreten.
Sein Funkgerät meldete sich. Bremer zog den Apparat aus der Jackentasche, schaltete ihn ein und sah ganz automatisch nach oben zu dem Balkon im achten Stock des Apartmenthauses. Hinter den offenstehenden Glastüren herrschte noch immer Dunkelheit. Offensichtlich hatte es dieser Trottel von Hausmeister immer noch nicht geschafft, die Tür aufzubekommen.
Er drückte die Sprechtaste. »Ja?«
»Peter?«
Das war Clausens Stimme, der Fahrer des anderen Streifenwagens, der dreißig Meter entfernt mit noch immer zuckendem Blaulicht quer auf der Fahrbahn stand und die zweite Hälfte der improvisierten Straßensperre bildete, die sie errichtet hatten. Nicht, daß das irgend etwas nutzte. Der Menschenmenge zufolge, die hier innerhalb der letzten Viertelstunde zusammengekommen war, hätte man meinen können, sich an einem langen Samstag auf dem Ku'damm zu befinden, nicht mitten in der Nacht in einer Wohngegend an der Peripherie der Stadt.
»Nein, hier ist der Kaiser von China«, antwortete Bremer gereizt. Wen um alles in der Welt erwartete Clausen, wenn er ihn anfunkte?
»Ich fürchte, wir kommen hier nicht weiter.« Die Verbindung war zu schlecht, um sagen zu können, ob Clausen seinen aggressiven Ton zur Kenntnis genommen hatte oder nicht. »Ruf doch lieber einen Schlosser an.«
»Was ist so schwer daran, eine Tür aufzubrechen?« fragte Bremer, noch immer im gleichen gereizten Ton. »Wenn der Hausmeister es nicht schafft, dann tritt sie meinetwegen ein. Ihr werdet doch noch so eine blöde Tür aufkriegen, oder?«
Diesmal verging ein spürbarer Moment, ehe Clausen antwortete. »Was ist denn los mit dir? Wieso bist du so gereizt?«
Du solltest die Sauerei hier mal sehen, dachte Bremer, dann wüßtest du, warum ich gereizt bin. Aber er sprach diese Antwort nicht laut aus. Clausens Reaktion machte ihm klar, wie es wirklich um seine Verfassung bestellt war. Er verlor so gut wie nie die Beherrschung und niemals die Fassung, aber es kam auch höchst selten vor, daß jemand sein Gehirn über die Uniform seines Partners verteilte.
»Es ist nichts«, sagte er ausweichend. »Entschuldige. Was ist nun mit der Tür? Kriegt ihr sie auf oder nicht?«
»Keine Chance«, antwortete Clausen. »Fort Knox ist nichts dagegen. Wir brauchen einen Schlosser, und zwar einen guten. Er soll ein Schweißgerät mitbringen.«
»Wie bitte?« fragte Bremer überrascht.
»Komm rauf und sieh es dir selbst an, wenn du mir nicht glaubst«, erwiderte Clausen. »Das hier ist die reinste Festung. Der Kerl muß vollkommen paranoid gewesen sein - oder er hat etwas ziemlich Wertvolles in seiner Wohnung.«