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Sie... hatten... SIE ... geholt. Sie waren gekommen, um sie ihm wegzunehmen, aber das durfte er nicht zulassen. Er würde es ihnen nicht noch einmal gestatten. Niemand durfte sie ihm noch einmal wegnehmen. Niemand.

Er mußte sie zurückholen.

Er mußte sie zurückholen.

 Er

  mußte

   sie

    zurückholen,

     Jetzt!

29. Kapitel

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte Petri. Es waren die ersten Worte, die Sillmann von ihm hörte, seit sie losgefahren waren, aber dieses Schweigen beruhte auf Gegenseitigkeit - auch Sillmann selbst hatte kaum etwas gesagt, sondern sich scheinbar vollkommen darauf konzentriert, den schweren Wagen durch den Verkehr zu manövrieren. Trotzdem waren sie zweimal nur um Haaresbreite dem Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug entgangen, und Petri hatte längst aufgehört, die roten Ampeln und Stoppschilder zu zählen, die sie überfahren hatten. Sie hatten noch nicht einmal ein Viertel der Strecke zurückgelegt, aber daß sie überhaupt so weit gekommen waren, ohne in einen Unfall verwickelt oder von einer Polizeistreife angehalten zu werden, kam Petri schon fast wie ein kleines Wunder vor.

Petri wußte allerdings nicht einmal, ob er sich darüber freuen sollte. Er wollte nicht hier sein. Er sollte nicht hier sein. Schlimmer: Irgend etwas sagte ihm, daß er nicht hier sein durfte. Was er gesagt hatte, entsprach zwar seiner Überzeugung, aber es hatte nicht einmal annähernd so nachdrücklich geklungen, wie er gewollt hatte. Die Wahrheit war, daß Petri gerade am eigenen Leib eine neue Erfahrung machte: nämlich die, daß man sowohl innerlich als auch äußerlich vollkommen ruhig bleiben - und trotzdem in Panik geraten konnte.

Petri war in Panik. Es war eine ganz besondere Art von Panik - keine Feuersbrunst der Gefühle, die sein Denkvermögen verzehrt und seine Hände hätte zittern lassen, sondern ein Schwelbrand, heiß und dunkel und fast ohne Rauch, dessen Glut sich beharrlich tiefer und tiefer fraß.

Er würde sterben. Heute abend.

Trotzdem hatte er keine Angst. Er hatte niemals Angst vor dem Tod gehabt. Vor dem Sterben, sicher - als Arzt hatte er die furchtbaren Dinge zur Genüge gesehen, die das Leben einem Menschen antun konnte, wenn er sich dagegen wehrte, zu gehen, aber vielleicht war das auch der Grund, weshalb er den Tod nicht fürchtete. In allen Fällen, die er erlebt hatte - ausnahmslos allen -, war er stets eine Erlösung gewesen. Und er hatte noch einen zweiten, mächtigeren Verbündeten gegen die Furcht: seinen Glauben. Petri war ein zutiefst religiöser Mensch, und er wußte, daß es danach nicht vorbei war. Etwas erwartete sie auf der anderen Seite: vielleicht etwas Schönes, vielleicht etwas Grauenhaftes, wahrscheinlich aber etwas einfach vollkommen anderes.

Nein, er hatte keine Angst. Was er spürte, war etwas anderes: ein Gefühl von... Endgültigkeit, das sich jenseits der Furcht bewegte. Er war in einem Alter, in dem er begonnen hatte, über seine Zukunft nachzudenken, vielleicht ein wenig intensiver, als es ein jüngerer Mann, und ein wenig nachdenklicher, als es ein anderer Mann an seiner Stelle getan hätte, aber nicht sehr viel und nicht sehr oft. Wenn er an morgen gedacht hatte, dann an berufliche Dinge, vielleicht an den Ruhestand, von dem er seit Jahren sprach und den er seit ebenso vielen Jahren auf das nächste Jahr - das immer das nächste Jahr geblieben war - verschob, ganz selten an das Privatleben, das er ohnehin niemals gehabt hatte und auch nicht hatte haben wollen. Wenn er jetzt an morgen dachte, war da nichts. Nur eine schwarze Ebene, die sich dort erstreckte, wo die Zukunft sein sollte.

Petri war kein abergläubischer Mensch. Er glaubte weder an PSI-Phänomene noch an Geister oder Humbug wie Präkognition, aber er war auf der anderen Seite auch zu sehr Wissenschaftler, um nicht an Ahnungen zu glauben. Er hatte es zu oft erlebt. Manchmal meldete sich das Ende an, meistens in medizinischer Hinsicht: Der Verlauf so vieler Krankheiten war viel besser bekannt, als die allermeisten Menschen ahnten, und er hatte aufgehört, sich die Zahl seiner Patienten merken zu wollen, deren verbliebene Lebensspanne er auf den Tag genau vorausberechnet hatte - ohne es ihnen zu sagen.

Aber er hatte auch andere Fälle erlebt. Nicht viele, aber eindeutig zu viele, um sie zu ignorieren oder als bloßen Zufall abzutun: Menschen, die weder krank noch alt waren und die doch das Ende nahen spürten. Jetzt erlebte er es selbst.

»Was haben Sie gesagt?« Sillmann drehte am Radio, um einen anderen Sender zu suchen - das hatte er bereits unzählige Male getan, seit sie losgefahren waren, ohne der Stimme irgendeines Sprechers oder irgendeinem Lied eine Chance von mehr als einer halben Minute zu gewähren -, und sah Petri gleichzeitig fragend an. Er hatte gehört, daß er etwas, aber nicht, was er gesagt hatte. Petri andererseits hatte für einen Moment fast Mühe, sich auf seine eigene Frage zu besinnen.

»Ich sagte, daß ich es nicht für eine gute Idee halte, dorthin zu fahren«, wiederholte er schließlich.

Sillmann lächelte flüchtig. »Ich auch nicht«, antwortete er. »Aber ich fürchte, daß es nicht mehr darum geht, was wir meinen, Doktor.«

Petri zog die Unterlippe zwischen die Zähne und begann darauf herumzukauen: eine Angewohnheit, die er während seines Studiums abgelegt hatte. Jetzt, fast ein Menschenalter später, war sie wieder da. Eines der ehernen Gesetze des Universums: Nichts verschwand wirklich. Nie. Er Wußte, wie sinnlos es war, aber er fuhr trotzdem fort: »Es könnte der entscheidende Fehler sein. Noch ist es nicht zu spät. Wir... wir könnten einfach abwarten. Vielleicht kommt er zurück, und ...«

»Es ist zu spät, Doktor«, unterbrach ihn Sillmann. Er drehte weiter am Radio und überfuhr ein Stoppschild, ohne es auch nur zu merken. Hinter ihnen quietschten Bremsen, und ein wütendes, stakkatohaftes Hupen erscholl. Sillmann schien auch dies nicht einmal zu registrieren. »Waren das nicht Ihre eigenen Worte?«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, antwortete Petri scharf. »Aber auch ich kann mich irren.«

Sillmann lachte. »Ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem Sie sich geirrt hätten, Doktor.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, sagte Petri. Warum eigentlich? Er wußte doch, daß Sillmann recht hatte. Er sprach genau das Gegenteil von dem aus, was er selbst dachte, aber er konnte auch nicht damit aufhören. Vielleicht, dachte er, war das das erste wirkliche Anzeichen von Panik, das er selbst an sich bemerkte. »Verdammt, wenn Sie schon nicht auf meine Gefühle hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf meinen Rat als Arzt. Es ist Wahnsinn, dorthin zu gehen.«

»Falsch«, sagte Sillmann, »Es war Wahnsinn, Doktor. Aber diesen Fehler haben wir vor langer Zeit begangen. Jetzt zahlen wir dafür.«

Petri drehte mit einem Ruck den Kopf und sah Sillmann an, aber dabei streifte sein Blick den Rückspiegel, und für einen ganz kurzen Moment war es ihm, als sähe er etwas darin. Noch während er antwortete, führte er die begonnene Bewegung fort und sah auf die Rückbank. Natürlich war sie leer. Was hatte er erwartet?

»Sie haben diesen Fehler begangen, Sillmann, nicht ich«, antwortete er in scharfem, aber trotzdem ganz bewußt ruhigem Tonfall. »Nicht wir. Ich-«

»Ich dachte, das hätten wir hinter uns«, unterbrach ihn Sillmann. Er wechselte schon wieder den Sender, schaltete das Radio dann mit einer zornig wirkenden Bewegung aus und gleich darauf wieder ein. »Wollen Sie aussteigen?«

Petri wußte, daß er das gekonnt hätte. Sillmann hatte ihn nicht gezwungen, ihn zu begleiten, zumindest nicht in dem Sinn, daß er ihm gedroht oder ihn irgendwie erpreßt hätte. Manchmal waren es einfach die Umstände, die einen zwangen, Dinge zu tun, die man nicht wollte. Begangene Fehler, die sich rächten. Aber verdammt noch mal, es war einfach nicht fair. Er hatte einen einzigen Fehler gemacht. Nur einen: Aber er mußte ja auch nur mit einem Leben dafür zahlen.