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Zutiefst erschüttert richtete sich Bremer wieder auf, blieb lange Sekunden reglos stehen und wandte sich dann zuerst zu Sendig, dann zu Mark um, der noch immer in der gleichen Haltung wie zuvor an Sendigs Wagen lehnte. Sein Gesicht war leer, und seine Augen blickten starr ins Nichts.

»Was ist los mit Ihnen, Bremer?« fragte Sendig erneut. Er klang jetzt überhaupt nicht mehr besorgt Seine Stimme war fordernd, befehlend, aber zugleich von einem unüberhörbaren Vibrieren kaum mehr zurückgehaltener Panik erfüllt. »Sie haben etwas gesehen, nicht wahr?«

Bremer sah ihn nur an, dann ließ er sich neben Mark in die Hocke sinken und streckte die Hände nach ihm aus. Marks Gesicht war mit Schweiß bedeckt, aber eiskalt. Die Wunde in seinem Arm blutete immer noch leicht, obwohl Sendig tatsächlich einen Streifen aus seinem Hemd gerissen und die Arterie damit abgebunden hatte. Bremer zog den blutgetränkten Stoff über der Verletzung mit spitzen Fingern auseinander. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er die Wunde sah.

»Das ist eine Schußverletzung«, sagte er.

»Ich weiß«, antwortete Sendig. »Ich habe ihm gesagt, der Arzt ist unterwegs.«

»Sie haben auch gesagt, daß es nicht so schlimm ist«, antwortete Bremer. Er sah zornig zu Sendig hoch. »Sie wissen verdammt genau, daß er daran sterben kann.«

»Was soll ich tun?« schnappte Sendig. »Einen Regentanz auffuhren und die Götter anflehen, einen Krankenwagen vom Himmel fallen zu lassen? Ich kann nicht zaubern.«

Bremer mußte sich für einen Moment mit aller Gewalt beherrschen, um nicht aufzuspringen und Sendig die Faust ins Gesicht zu schlagen. Für eine Sekunde spürte er nichts als Wut. Er hatte gewußt, wie Sendig war. Er hatte versucht, sich selbst einzureden, daß er dessen Zynismus und vollkommene Gefühllosigkeit kannte und schon irgendwie damit fertig werden würde. Aber das stimmte nicht. Ob der Junge starb oder nicht, war Sendig vollkommen egal, genauso egal, wie es ihm wahrscheinlich war, ob er diesen Tag überlebte. Er selbst, Mark, das Mädchen, Marks Vater, der Fotograf, Löbach und Artner und wie sie auch alle hießen, die an diesem Tag bereits zu Schaden gekommen waren oder es noch würden - keiner von ihnen bedeutete Sendig irgend etwas. Sie alle waren nur Spielzeug für ihn, Figuren in einem Spiel, von dem Bremer nicht einmal wußte, wie es hieß. Aber statt aufzuspringen und auf Sendig loszugehen, ließ er sich im Gegenteil vollends auf die Knie sinken, griff behutsam nach Mark und legte ihn auf den Rücken. Hastig schälte er sich aus seiner Jacke, knüllte sie zu einem Ball zusammen und schob sie unter seine Beine. Mark reagierte mit einem leisen Stöhnen auf die Berührung, aber seine Augen blieben weiter auf diese schreckliche Art leer.

»Sie haben im Erste-Hilfe-Kurs gut aufgepaßt«, sagte Sendig spöttisch.

»Jedenfalls lege ich es nicht darauf an, ihn umzubringen«, erwiderte Bremer. »Ich nehme an, ich kann mir die Frage sparen, wer die Kerle in dem BMW waren? Ich meine - natürlich würden Sie es mir sagen. Aber nicht jetzt, sondern bald. Sobald der richtige Moment gekommen ist.«

Sendig ignorierte den beißenden Spott in seinen Worten. »Ich verstehe Ihre Neugier«, sagte er. »Aber glauben Sie mir - diese Burschen sind im Moment Ihr kleinstes Problem. Meines übrigens auch.«

Das Sirenengeheul kam näher. Am Ende der Straße tauchte das Blaulicht eines Krankenwagens auf, unmittelbar gefolgt von der Feuerwehr und gleich zwei Streifenwagen der Polizei.

»Typisch Bullen«, sagte Sendig. »Wenn man sie wirklich braucht, kommen sie zu spät.«

Bremer ersparte es sich, zu antworten. Statt dessen beugte er sich wieder über Mark und legte die Hand auf seine Stirn. Sie war noch immer eiskalt, aber er konnte fühlen, wie der Puls des Jungen jagte. Vielleicht war er mit dem, was er Sendig gerade zornig vorgeworfen hatte, der Wahrheit nähergekommen, als ihm lieb war. Der Junge hatte einen schweren Schock, und dazu kam der Blutverlust, der enorm gewesen sein mußte. Wenn er nicht schnellstens in ein Krankenhaus kam, dann würde er vielleicht wirklich sterben.

»Was ist mit den anderen?« fragte er.

Sendig machte eine Kopfbewegung auf die beiden brennenden Autowracks. »Sie sind tot«, sagte er ohne eine Spur von Mitleid in der Stimme.

»Ich glaube kaum, daß da einer rausgekommen ist Wenn sie mit im Wagen war...« Er zuckte die Achseln. »Ich fliehte, jetzt werden wir nie erfahren, ob Sie recht hatten.«

Er trat einen Schritt zur Seite, um dem Krankenwagen Platz zu machen, der sich mit mittlerweile abgeschalteter Sirene, aber noch immer hektisch rotierendem Blaulicht seinen Weg durch die Menge bahnte, die die Straße blockierte, und auch Bremer erhob sich zögernd. Die Türen des Krankenwagens flogen auf, und ein junger Arzt in einer signalroten Jacke sprang heraus und eilte zu Mark. Noch während er neben ihm niederkniete, öffnete er seinen Notfallkoffer und begann den beiden Sanitätern, die ihn begleiteten, routiniert Anweisungen zu geben.

Sendig trat einige weitere Schritte zurück und forderte Bremer mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Bremer gehorchte nur widerwillig. Es war nicht nur so, daß er immer noch wütend auf Sendig war - es war ihm im Moment beinahe unmöglich, seine Nähe zu ertragen. Harte er diesem Mann wirklich jemals auch nur eine einzige Sekunde vertraut?

Sendig trat noch einige weitere Schritte zurück und blieb erst stehen, als sich niemand mehr in ihrer unmittelbaren Hörweite aufhielt Er sah Bremer auf eine Art an, als hätte er seine Gedanken gelesen. Vermutlich waren sie ihm deutlich anzusehen. Aber er ging mit keinem Wort darauf ein, sondern drehte sich nach einigen Sekunden wieder herum und sah eine Weile zu, wie sich der Notarzt und die Sanitäter um Mark bemühten.

»Bin beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß es jemanden gibt, der einem im Notfall hilft, nicht?« fragte er.

»Wie?« fragte Bremer.

Sendig deutete auf den Arzt. »Er ist gut. Schade um ihn.«

»Was soll das heißen?« fragte Bremer scharf.

Sendig wiederholte seine Geste, schüttelte ganz sacht den Kopf und sagte sehr leise und ohne Bremer dabei ins Gesicht zu sehen: »Sie wollten wissen, was los ist? Also gut. Was halten Sie davon: Ich habe ein bißchen herumtelefoniert, während Sie die beiden beschattet haben. Erinnern Sie sich an den Arzt von gestern? Den, der Löbachs Leiche untersucht und sich um Ihren Kollegen gekümmert hat?«

»Natürlich«, antwortete Bremer. »Warum?«

»Er ist verschwunden«, sagte Sendig.

»Verschwunden! Was soll das bedeuten?«

»Das, was es heißt«, antwortete Sendig. »Er ist nicht mehr da. Eine Stunde, nachdem er Ihren Kollegen ins Krankenhaus gebracht hat, wurde er zu einem neuen Einsatz gerufen. Seither hat ihn niemand mehr gesehen. Weder ihn noch die beiden Sanitäter, die dabei waren, oder den Krankenwagen. Interessant, nicht?«

»Aber... aber das ist doch Unsinn«, sagte Bremer. Seine Stimme klang beunruhigter, als er sich selbst eingestehen wollte. »Ein kompletter Krankenwagen verschwindet doch nicht so einfach.«

»Manchmal schon«, erwiderte Sendig mit einem leisen, humorlosen Lachen. »Vor allem, wenn er zu einem Einsatz gerufen wird, den es nicht gibt.« Er deutete erneut auf den Arzt und seine beiden Helfer, die sich noch immer heftig um Mark bemühten. »Was meinen Sie? Sollen wir Wetten annehmen, ob sie morgen früh noch da sind? Oder tun wir unsere Pflicht und gewähren ihnen Polizeischutz?«

33. Kapitel

Die Treppe wurde von zwei langen Neonröhren beleuchtet, von denen aber nur eine funktionierte. Die andere flackerte unentwegt und verwandelte das untere Drittel des steil in die Tiefe führenden Schachtes in ein Spiegelbild dessen, was in Petri vorging. Auch seine Erinnerungen flackerten. Die Wand brach immer schneller zusammen, und im gleichen Maße wuchs die Schwärze dahinter heran. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Seine Erinnerungen waren nicht wirklich verschwunden, aber sie wären nicht mehr präsent. Sillmann hatte ihn hierher in den Keller des Laborgebäudes geführt, und er erinnerte sich an jeden Schritt, den sie getan hatten - aber er mußte sich dazu zwingen, mit einer Anstrengung, die ihm jedesmal ein bißchen schwerer fiel. Irgend etwas geschah mit ihm, und tief im Innern wußte er sogar, was es war. Aber der Gedanke war zu furchtbar, um ihn zu denken.