»Wo bleiben Sie, Doktor?« Sillmann hatte das Ende der Treppe bereits erreicht und vor einer schweren, mit zwei Schlössern gesicherten Tür haltgemacht. Mit der rechten Hand zog er einen Schlüssel hervor, mit dem er sie nacheinander öffnete. Die linke Hand blieb in seiner Manteltasche. Petri wußte, daß er irgend etwas darin hatte. Etwas Beunruhigendes, Gefährliches, aber er erinnerte sich nicht mehr, was es war. Als Petri nicht auf seine Frage antwortete, drehte er den Kopf und sah zu ihm hoch. In dem flackernden Licht dort unten vor der Tür schien auch sein Gesicht unentwegt zu vergehen und sich neu zu bilden. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Nein«, sagte Petri hastig. »Ich komme.« Er versuchte, schneller zu gehen, aber es blieb bei dem Versuch. Er konnte es nicht - nicht, weil seine Glieder ihm den Gehorsam verweigert hätten, sondern weil er sich für einen Moment nicht mehr daran erinnerte, wie man schneller ging. Seine Zeit war zerbrochen, er lebte nur noch im Jetzt, den drei endlosen Sekunden, die sein Bewußtsein als Gegenwart akzeptierte, und das sich beständig von einem wachsenden Strom aus Erinnerungen und Bildern fortbewegte, verblassenden Bildern mit verblassenden Farben, die er immer schwerer erkennen konnte. Aber inmitten dieses aus Millionen und Abermillionen Trümmerstücken bestehenden Chaos gab es ein Bild, das Bestand hatte. Er dachte an etwas, das in seiner Tasche war. Der Grund seines Hierseins. Und der Grund für das, was mit ihm geschah.
Sillmann hatte die Schlösser geöffnet und schob jetzt die Tür auf. Obwohl er ein sehr kräftiger Mann war, kostete es ihn sichtlich Mühe, sie zu bewegen. Die Scharniere quietschten, als wären sie seit Jahren nicht mehr bewegt worden, und die Luft, die durch die Tür herausströmte, roch nach Schimmel und Alter. Sillmann machte einen halben Schritt in den dahinterliegenden Raum hinein, tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter und betätigte ihn. Kaltes Neonlicht erfüllte den kleinen, vollkommen leeren Raum, der sich hinter der Tür erstreckte. Petri erkannte zwei weitere, massive Eisentüren, die tiefer in die Kellergewölbe des Labors hineinführten. Beide waren mit ebenso aufwendigen Schlössern gesichert wie die, durch die sie gerade gekommen waren, und zusätzlich versiegelt. Er blieb stehen, als Sillmann weiterging und mit einem anderen Schlüssel eine der beiden Türen zu öffnen begann. Seine Hände zitterten plötzlich. Er war schon einmal hiergewesen, schon oft! Seine Erinnerungen versagten immer rascher, aber was er nun spürte, hatte nichts mit Erinnerung zu tun. In diesem Raum war mehr als Licht und Staub und seit sechs Jahren nicht mehr geatmete Luft, etwas war hier, etwas, das getan worden war (von ihm?) und das Spuren hinterlassen hatte, die dem Gesetz vom ewigen Vergehen der Zeit trotzten. Es hatte etwas mit dem Ding in seiner Tasche zu tun. Dann fiel ihm noch etwas auf: Der Raum hatte keine Form. Keine, die es geben konnte. Er war genau quadratisch, fünf Schritte auf der rechten, fünf Schritte auf der linken und die gleiche Anzahl auf der vorderen und hinteren Seite, und doch war die Wand zu seiner Rechten kürzer als die anderen. Es war der gleiche Effekt wie vorhin im Wagen, nur viel deutlicher und viel erschreckender. Und diesmal konnte er ihn nicht mit der schlechten Beleuchtung oder seiner Nervosität erklären. Ein Stück der Wand fehlte. Jemand hatte einen Teil aus der Welt herausgeschnitten und die Ränder sorgsam wieder zusammengeklebt.
Sillmann hatte die nächste Tür geöffnet und zerriß das Siegel.
34. Kapitel
Der Arzt zog die Nadel aus Bremers Vene und tupfte den einzelnen Blutstropfen, der aus dem winzigen Einstich quoll, mit einem Wattebausch weg. Bremer schüttelte den Kopf, als er die Spritze aus der Hand legte und nach einem Pflaster greifen wollte. Der Arzt nahm es ohne Protest hin. »Bis wir in der Klinik sind, wird das reichen«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß ich Ihre Hand nicht verbinden soll?«
Bremer schüttelte erneut den Kopf, aber er sah auch ganz automatisch auf seihe linke Hand herab. Seine Fingernägel hatten zwar aufgehört zu bluten, aber sie waren bis weit ins Nagelbett hinein eingerissen und schmerzten mittlerweile erbärmlich. Aber das spielte im Augenblick keine Rolle. »Kümmern Sie sich lieber um ihn«, sagte er, indem er auf Mark deutete. »Wird er durchkommen?«
Der Arzt zögerte einen Moment mit der Antwort. Schließlich machte er eine Bewegung, die wie ein widerwilliges Nicken aussah. Er stand auf und trat gebückt an die Liege heran, auf der die beiden Pfleger den verletzten Jungen festgeschnallt hatten. Sie hatten ihm das zerrissene Hemd ausgezogen und die Schußwunde in seinem Arm notdürftig verbunden, und die Elektronik des Krankenwagens, der von außen betagt aussah, innen aber supermodern ausgestattet war, überwachte blinkend und piepsend all seine Lebensfunktionen.
Obwohl die Liege gefedert war, setzten sich die schaukelnden Bewegungen des Krankenwagens bis zu Mark fort. Sein Kopf rollte leicht hin und her, was den Eindruck erweckte, er wäre wach. Er war es nicht. Eine der zahlreichen Injektionen, die ihm der Arzt gegeben hatte, hatte ihn wohl einschlafen lassen, denn seine Augen waren jetzt geschlossen, und sein Atem ging gleichmäßiger. Obwohl der Anblick Bremer nach wie vor erschreckte, war er doch zugleich erleichtert, nicht mehr diese schreckliche Leere in Marks Augen sehen zu müssen.
»Ich denke schon«, sagte der Arzt schließlich. »Er hat eine Menge Blut verloren und einen schweren Schock, aber... ich denke, wir kriegen ihn durch.«
Er trat wieder von der Liege zurück und betätigte die Sprechtaste, die ihn mit dem Fahrer im vorderen Teil des Wagens verband. »Wie lange brauchen wir noch?«
Die Antwort kam sofort, »Zehn Minuten, vielleicht länger. Der Verkehr ist heute abend wie verrückt. Ich weiß auch nicht, was los ist.«
»Aber ich«, mischte sich Sendig ein. Er hatte bisher schweigend und reglos neben Bremer auf der zweiten Liege gesessen und mit mißtrauischen Blicken jeden Handgriff des Arztes verfolgt, zwischendurch aber auch immer wieder nervös aus dem Fenster gesehen. Mit einer fahrigen Geste fuhr er fort: »Wir fahren zur Charité?«
Der Arzt nickte. »Ja.«
»Dann kalkulieren Sie lieber zwanzig Minuten ein«, sagte Sendig. »Auf der Lindenallee ist eine Großbaustelle. Die ganze City ist dicht. Hat man Ihnen nichts davon gesagt?«
»Kein Wort. Und ich habe auch nicht-«
»Ich hatte vorhin Mühe, durchzukommen«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Und das war vor einer Stunde. Jetzt sind die ganzen Verrückten aus den Diskotheken und Kinos auf dem Weg nach Hause.« Er überlegte einen Moment, sah wieder aus dem Fenster und deutete dann auf die Sprechtaste, die der Arzt gerade betätigt hatte. »Lassen Sie ihn an der nächsten Ampel rechts abbiegen. Wir fahren durch das Industriegebiet. Das ist weiter, geht im Moment aber schneller.«
Das klang nicht besonders überzeugend, und der Arzt zögerte auch tatsächlich einige Sekunden, drückte aber schließlich doch auf die Sprechtaste und gab Sendigs Anweisung an den Fahrer weiter. Bremer sah den Kommissar fragend an. Er hatte den ganzen Tag über den Polizeifunk abgehört und nichts von irgendeiner Baustelle erfahren, geschweige denn einem Stau. Und vor einer Stunde war Sendig ganz gewiß nicht in der Nähe der City gewesen. Was hatte er vor?