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Sendig quittierte seine fragend hochgezogenen Augenbrauen mit einem kurzen, aber beinahe beschwörenden Blick. Einem Blick, der Bremer mehr beunruhigte als alles andere, was bisher geschehen war. Hätte er bis zu diesem Moment noch Zweifel daran gehabt, daß Sendig unter der Maske aufgesetzter Ruhe vor Angst fast wahnsinnig wurde, so hätte dieser Blick sie endgültig beseitigt Er sah einem Mann in die Augen, der um mehr fürchtete als sein Leben.

»Glauben Sie, daß ich mit dem Jungen sprechen kann?« fragte Sendig.

»Sicher«, antwortete der Arzt. »Morgen früh oder in zwei Tagen oder einer Woche.«

»Das meine ich nicht«, sagte Sendig. Seine rechte Hand glitt in einer wie zufällig wirkenden Bewegung unter die Jacke und blieb dort. »Ich meine: jetzt, hier.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte der Arzt. Er warf Sendig einen feindseligen Blick zu - übrigens nicht zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren. Sendig hatte ihn fast gewaltsam dazu zwingen müssen, nicht nur Bremer, sondern auch ihn im Krankenwagen mitzunehmen, und der Arzt machte keinen Hehl daraus, daß er in mindestens einem Punkt mit Bremer übereinstimmte: Er könnte Sendig nicht ausstehen. »Sie sehen doch, in welchem Zustand er ist. Selbst wenn ich ihn aufwecken könnte, würde ich es nicht tun. Aber ich kann es nicht.«

»Das ist bedauerlich«, sagte Sendig. »Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen.« Er zog die Hand unter der Jacke hervor, und sie hielt genau das, was Bremer erwartete hatte: eine Pistole, deren Mündung er mit einer betont langsamen Bewegung auf das Gesicht des Arztes richtete.

Bremers Gedanken stockten für den Bruchteil einer Sekunde und begannen sich dann zu überschlagen. Blitzartig spielte er alle Möglichkeiten durch, die er hatte. Er war Sendig nahe genug, um ihn zu packen und ihm die Waffe zu entreißen, ehe er abdrücken konnte. Zugleich aber sah er auch eine Entschlossenheit auf Sendigs Gesicht, die ihn warnte, daß Sendig sich nicht so einfach würde überwältigen lassen. Ein Handgemenge in dem engen Wagen konnte fatale Folgen haben - tödliche, sollte sich ein Schuß lösen. Und da war noch etwas: Die Furcht in Sendigs Augen hatte die Erinnerung wieder geweckt, die er im Verlauf der letzten halben Stunde so mühsam unterdrückt hatte. Die Erinnerung an das Ding auf der Treppe, den Schatten im Auto und das, was er auf dem Foto gesehen hatte.

»Sendig...« begann er zögernd.

»Denken Sie nicht einmal daran«, unterbrach ihn Sendig. »Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und Sie übrigens auch nicht.« Sowohl sein Blick als auch der Lauf seiner Waffe blieben starr auf den Arzt gerichtet, der dem kurzen Gespräch vollkommen fassungslos gefolgt war. Er sah nicht einmal erschrocken aus, sondern einfach nur verblüfft.

»Sind... sind Sie verrückt geworden?« stieß er mühsam hervor. Ohne Sendigs Reaktion abzuwarten, wandte er sich an Bremer. »Tun Sie etwas, Mann! Sie sind doch Polizist!«

»Seien Sie froh, daß er vernünftig genug ist, nichts zu tun«, sagte Sendig. »Und jetzt wecken Sie den Jungen auf! Ich muß darauf bestehen, Herr Doktor.«

»Das kann ich nicht«, antwortete der Arzt. Allmählich bekam er nun doch Angst, aber auf seinem Gesicht breitete sich auch ein Ausdruck von Trotz aus, den Bremer gut genug kannte. »Es würde ihn umbringen. Wollen Sie das?«

Die Pistole in Sendigs Hand bewegte sich eine Winzigkeit höher und zielte nun genau zwischen die Augen des Arztes. »Wollen Sie lieber sterben?«

Der Arzt wurde immer nervöser. Aber er rührte sich nicht, sondern schürzte nun trotzig die Lippen. »Sie schießen nicht«, behauptete er nervös. »Was hätten Sie schon davon? Außerdem kann ich ihn gar nicht wecken, selbst wenn ich wollte.«

Sendig seufzte tief. Er drehte den Kopf und sah kurz aus dem Fenster, dann stand er auf, trat in gebeugter Haltung mit einem Schritt auf den Arzt zu - und schlug ihm mit dem Lauf der Pistole quer über das Gesicht. Bremer fuhr erschrocken hoch, während der Arzt mit einem überraschten Keuchen halb von seinem Schemel kippte und gegen die Liege mit dem bewußtlosen Mark gefallen wäre, hätte Sendig ihn nicht aufgehalten. Er stieß ihn grob auf den Schemel zurück und sagte in einem leisen, aber sehr entschlossenen Ton: »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es wenigstens versuchen würden, Herr Doktor.«

Die Sprechanlage knisterte. »Ist alles in Ordnung dahinten?«

»Ja«, antwortete Sendig. »Das heißt nicht ganz. Bitte halten Sie an der nächsten Kreuzung an und kommen Sie nach hinten. Und Ihr Kollege auch.« Er wartete, bis das winzige Licht der Sprechanlage erlosch, dann wandte er sich wieder an den Arzt. »Also?«

»Sie sind ja wahnsinnig!« stöhnte der Mann. Er hatte die Hand auf das Gesicht gepreßt und schien hörbar Mühe zu haben, überhaupt zu reden.

»Möglich«, antwortete Sendig. »Bedenken Sie diesen Umstand, ehe Sie irgend etwas tun.«

Bremer saß noch immer wie gelähmt da. Er verstand selbst nicht, warum er nichts unternahm. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich auf Sendig zu stürzen und ihn zu entwaffnen. Er stand unmittelbar vor ihm, drehte ihm aber den Rücken zu, und der Lauf seiner Pistole war auf den Boden gerichtet. Selbst wenn er voraussetzte, daß Sendig verrückt war und auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen würde, standen seine Chancen nicht schlecht Aber statt es zu versuchen, saß er nur einfach weiter da und rührte sich nicht. Das war also das Ende seiner Karriere, dachte er. Er hätte auf seine innere Stimme hören und Sendig zum Teufel jagen sollen, als er heute morgen an seiner Tür geklopft hatte.

»Hören Sie zu!« stöhnte der Arzt. »Sie verstehen das nicht. Der Junge hat einen schweren Schock. Das ist nicht so harmlos, wie die meisten Laien glauben. Er kann daran sterben!«

»Wenn Sie es nicht tun, werden vielleicht noch sehr viel mehr Menschen sterben, Doktor«, sagte Sendig ernst. »Ich verlange nicht, daß Sie es verstehen, aber glauben Sie mir - es geht um mehr als sein Leben. Und wenn Sie es nicht glauben wollen, bleiben Sie einfach bei Ihrer Meinung, daß ich verrückt und völlig ausgerastet bin.«

Das Motorengeräusch veränderte sich. Bremer sah aus dem Fenster und bemerkte, daß der Wagen langsamer zu werden begann und an den Straßenrand rollte. Sie fuhren ohne Sirene, aber mit eingeschaltetem Bläulicht. Nach einigen Augenblicken hielt der Wagen an. Bremer konnte hören, wie die beiden Sanitäter ausstiegen und um das Fahrzeug herumeilten.

Sendig trat einen halben Schritt zurück und wartete, bis die beiden hinteren Türen geöffnet wurden. Erst dann drehte er sich langsam herum und hob seine Waffe. »Guten Abend, meine Herren«, sagte er fröhlich. »Es besteht kein Grund zur Panik. Betrachten Sie sich als gekidnappt. Wenn Sie vernünftig sind und mich und meinen Begleiter nach Kuba fliegen, wird niemandem etwas geschehen.«

Niemand lachte. Die beiden Männer starrten Sendig nur vollkommen verdattert an. Offensichtlich erging es ihnen nicht anders als dem Arzt gerade: Sie verstanden gar nicht, was geschah. »Soll... soll das ein Witz sein?« fragte einer der beiden.

»Keineswegs«, antwortete Sendig. Er lächelte noch immer, aber eigentlich war es gar kein Lächeln. Es war eine Grimasse, über deren wahre Bedeutung Bremer lieber nicht nachdenken wollte. »Wenn ich Sie um Ihre Funkgeräte bitten dürfte?«

Bremers Blick fiel auf die Straße hinter den beiden Männern. Sie befanden sich in einer menschenleeren, schäbigen Gegend - kopfsteingepflasterte Straßen, die von tristen Industrie- und Lagerhallen gesäumt wurden und tagsüber vielleicht von Leben pulsierten, jetzt aber zum größten Teil unbeleuchtet und still dalagen.

Das Blaulicht rotierte noch immer und warf zuckende Lichtreflexe auf die Ziegelsteinmauern, wie der Widerschein eines lautlosen, gleichmäßigen Gewitters. Irgend etwas war dort draußen. Bremer konnte es spüren. Irgendwo in diesen regelmäßig erscheinenden und wieder mit der Nacht verschmelzenden Schatten waren unsichtbare Augen, die ihn anstarrten, belauerten, gierig, drohend, abwartend... Er war da. Er war die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, ein unsichtbarer Schemen, der stets in den Schatten lauerte und dem keiner seiner Schritte entging. Ganz plötzlich begriff Bremer, wie sinnlos alle seine Versuche gewesen waren, vor ihm davonzulaufen. Wie konnte er vor etwas fliehen, das Teil von ihm war?