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Die beiden Sanitäter hatten mittlerweile wohl begriffen, daß Sendig keineswegs scherzte, und legten zögernd ihre Sprechfunkgeräte auf den Wagenboden. »Sehr vernünftig«, sagte Sendig. »Und wenn ich Sie jetzt noch um Ihre Geldbörsen bitten dürfte? Keine Sorge - ich will Sie nicht bestehlen. Ich mochte nur sichergehen, daß Sie nicht telefonieren.«

Die Männer gehorchten auch diesmal, aber einer sagte: »Was soll denn der Unsinn? Was glauben Sie, wie weit Sie mit der Kiste kommen?«

»Weit genug«, antwortete Sendig. Er wandte sich an Bremer: »Können Sie den Wagen fahren?«

Bremer sah weiter die Straße hinab. Einer der Schatten dort draußen bewegte sich in einem anderen Rhythmus als dem des flackernden Blaulichts. Er kam nicht näher, aber er schien zu wachsen, als erhielte er mit jedem neuen Zyklus von hell nach dunkel ein wenig mehr Substanz. Er konnte ihn immer noch nicht wirklich erkennen, aber das brauchte er auch nicht. Er wußte, was es war: etwas Großes, Glitzerndes, mit Klauen und Zähnen und einem Paar gewaltiger stählerner Schwingen...

»Bremer?«

»Ja«, sagte der mühsam. »Ja, okay. Ich... kann ihn fahren. Aber er hat recht - wir kommen keine zwei Kilometer weit.«

»Einen Krankenwagen zu kidnappen ist eine ziemlich bescheuerte Idee«, pflichtete ihm der Fahrer bei.

Auf Sendigs Gesicht erschien ein Ausdruck grimmiger Zufriedenheit. »Stimmt«, sagte er. Er wandte sich an den Arzt. »Doktor?«

Der Arzt starrte ihn an. »Ich beuge mich der Gewalt«, sagte er. »Aber ich warne Sie. Wenn der Junge stirbt, dann ist das Mord - und der geht auf Ihr Konto.«

Sendig antwortete nichts darauf. Nach einigen weiteren Sekunden erhob sich der Arzt, öffnete eine Schublade und zog eine bereits fertig aufgezogene, in Cellophan eingeschweißte Spritze hervor. »Das ist Wahnsinn«, murmelte er, während er die Verpackung abriß und die Nadel in den durchsichtigen Plastikschlauch stach, aus dem die Infusionslösung in Marks Vene tropfte. »Mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit wird es ihn umbringen.«

»Wie lange dauert es, bis es wirkt?« fragte Sendig unbeeindruckt.

»Keine Ahnung.« Der Arzt hob die Schultern. »Fünf Minuten... zehn. Wenn überhaupt.«

»Wunderbar«, sagte Sendig. Er wedelte mit der Pistole. »Wenn Sie sich jetzt bitte zu Ihren Kollegen begeben würden, Herr Doktor. Ihr Funkgerät und Ihre Geldbörse, bitte.«

Der Arzt legte die verlangten Gegenstände neben die der beiden Sanitäter auf den Wagenboden, drehte sich dann aber noch einmal herum und zog eine weitere cellophanverpackte Wegwerfspritze aus einer Schublade. Er reichte sie Bremer. »Wenn er kollabiert, geben Sie ihm das«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es hilft, aber es ist das einzige, was ich noch tun kann.« Du hättest mehr tun können, fügte sein Blick hinzu. Du hättest diesen Verrückten aufhalten können. Vielleicht kannst du es noch. Ehe er den Jungen umbringt. Bremer hatte nicht die Kraft, diesem Blick länger als eine Sekunde standzuhalten. Er schob die Spritze in die Innentasche seiner Jacke, wobei er sorgsam darauf achtete, die Nadel nicht zu verbiegen, und wandte sich ab.

Bremers Blick suchte die Straße ab. Es war da. Und es kam näher; immer dann, wenn das zuckende Blaulicht für einen Moment erlosch, kam es nähen eine schwarze Schimäre, die geduckt von Schatten zu Schatten sprang, wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirschte. Er war sicher, solange er hier drinnen blieb, aber wenn er den Wagen verließ, würde es ihn kriegen. Er schloß die Augen, aber es nutzte nichts. Der Terror fand hinter seinen Lidern statt.

»Geben Sie doch auf, Mann!« Der Arzt versuchte ein letztes Mal, an Sendigs Vernunft zu appellieren. »Ich... ich verspreche Ihnen, daß niemand etwas davon erfährt. Keiner von uns wird etwas sagen. Wenn dem Jungen nichts geschieht, vergessen wir die Sache einfach!«

Sendig deutete mit der Pistole die Straße hinab. »Gehen Sie, Doktor. Wenn Sie sich beeilen, sind Sie in zehn Minuten an der Hauptstraße und können einen Wagen anhalten. Und wenn Sie noch einen guten Rat von mir wollen: Vertrauen Sie in den nächsten Tagen niemandem. Erzählen Sie vor allem niemandem, daß Sie mit dem Jungen in Berührung gekommen sind. Und jetzt verschwinden Sie!«

Die drei Männer drehten sich um. Die ersten Schritte gingen sie noch langsam, aber dann verfielen sie in einen schnellen Laufschritt und rannten schließlich. Sendig wedelte ungeduldig mit seiner Waffe. »Bremer! Fahren Sie los. Wir haben nicht viel Zeit. Und schalten Sie dieses verdammte Blaulicht aus.«

Bremer wollte aus dem Wagen steigen, aber er konnte es nicht Er war wie gelähmt. Das Ding war dort draußen. Es wartete auf ihn. Er war verloren, wenn er die Sicherheit des Wagens verließ.

»Was ist mit Ihnen, Bremer?« fragte Sendig. Er klang plötzlich alarmiert. »Stimmt etwas nicht?«

Bremers Hände und Knie begannen zu zittern. Er war wieder fünf Jahre alt und lag mit über den Kopf gezogener Decke im Bett, und draußen schlich das Monster herum. Es war stickig unter der Bettdecke, es war heiß, und er bekam kaum noch Luft, aber das Monster würde ihn kriegen, sobald er die Decke auch nur um einen Spalt hob.

»Er... kommt«, flüsterte Bremer.

Sendigs Augen wurden schmal. Eine Sekunde lang starrte er ihn an, dann folgte er seinem Blick und sah lange und mißtrauisch auf die Straße hinaus. Vielleicht nahm er ebenfalls etwas wahr, vielleicht auch nicht. Nach einigen Sekunden jedenfalls steckte er die Waffe ein und deutete über die Schulter zurück zur Fahrerkabine. »Also gut. Ich fahre. Bleiben Sie hier und achten Sie auf den Jungen.«

35. Kapitel

Petri hatte zu beten begonnen. Obwohl er ein zutiefst gläubiger Mensch war, hatte er seit Jahren nicht mehr gebetet. Jetzt tat er es. Seine Lippen bewegten sich lautlos, denn er hatte die Worte vergessen, aber die bloße Tätigkeit spendete ihm Trost. Er wußte nicht mehr, warum, aber da war etwas wie ein warmes Feedback in ihm, der Schatten einer verblassenden Erinnerung, der ihm noch eine Spur von Wärme vermittelte. Er konnte sich nicht erinnern, es getan zu haben, aber er mußte Sillmann wohl in den nächsten Keller gefolgt sein, denn sie waren in einem anderen Raum. Er enthielt Dinge, die ihn erschreckten, ohne daß er wußte, warum.

»Sie haben alles dabei?« fragte... wer? Sillmann? Petri antwortete nicht, aber er hörte, wie Sillmann sich herumdrehte und auf ihn zukam. Dann berührte er ihn an der Schulter, und Petri mußte die Augen öffnen. Bisher hatte er es nicht gewagt. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern machte ihm angst, aber solange er sie geschlossen hielt, konnte er sich wenigstens einreden, daß auf der anderen Seite Licht war und eine Welt, die nicht Stück für Stück erlosch.

»Was ist mit Ihnen, Doktor?« fragte der Mann, dessen Namen er vergessen hatte. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Petris Blick irrte unstet durch den Raum. Die Welt war noch da, aber sie war jetzt asymmetrisch. Der Keller hatte keine geometrisch erkennbare Form mehr. Die Stücke, die die Wirklichkeit eingebüßt hatte, waren größer geworden. Er befand sich im Inneren eines Ballons, der unaufhaltsam schrumpfte. Aber noch war etwas da. Ein Stück Wand, das nahtlos in die gegenüberliegende Seite des Raumes überging, obwohl der Boden davor unversehrt geblieben war, ein Fragment der Tür, über dem ein sichelförmiges Fragment der Decke begann. Noch während er hinsah, wich wieder ein wenig Luft aus dem Ballon. Das Universum schrumpfte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte das Gesicht vor ihm. »Wenn wir die Nerven behalten, kann gar nichts passieren. Wir haben es schon einmal geschafft, und damals war es viel gefährlicher als heute.« Er sah Petri an, wartete vergebens auf eine Antwort und rüttelte schließlich unsanft an seiner Schulter. Petri rührte sich nicht Er wußte nicht, wer dieses Gesicht vor ihm war, und die Worte hatten jede Bedeutung verloren. Er hatte auch aufgehört zu beten. Er wußte nicht mehr, wie es ging und zu wem er hätte beten sollen.

»Verdammt, Petri, reißen Sie sich gefälligst zusammen!« schnauzte Sillmann. »Machen Sie nicht ausgerechnet jetzt schlapp!« Er packte Petri an beiden Schultern und schüttelte ihn so heftig, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. »Ich brauche Sie!«

Der Raum war weiter zusammengeschmolzen. Er war jetzt kleiner, als er eigentlich sein konnte, um ihnen beiden Platz zu bieten, eine winzige, schrumpfende Blase der Wirklichkeit, um die herum nichts mehr war - nicht einmal mehr Leere. Und doch war plötzlich noch etwas da: eine schwarze Gestalt, die hinter dem namenlosen Gesicht vor ihm stand und ihn anstarrte. In der sich immer weiter ausbreitenden Leere in seinem Kopf blitzte noch einmal eine Erkenntnis auf: Er wußte, wer er war, und er wußte auch, warum er hier war. In Wahrheit war er die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, all die Jahre und Jahre, die vergangen waren.

»Ja, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt«, sagte Sillmann. »Aber gut - geben Sie her!« Mit einer groben Bewegung riß er Petri die Arzttasche aus der Hand und begann hektisch darin herumzukramen. Schließlich hob er ein ledernes Spritzenetui in die Höhe und ließ die Tasche achtlos fallen.

»Ist es das? Das ist es, nicht wahr? Also gut, dann mache ich es eben selbst. Ich werde auch allein damit fertig, verdammt. So, wie ich immer allein mit allem fertig werden mußte.«

Er klappte das Etui auf. Darin lag eine verchromte Spritze mit großen Scherengriffen, in deren Glaskolben eine goldfarbene Flüssigkeit schimmerte. Sie war der Grund, aus dem der Vernichter gekommen war. Sie hatten ein Leben ausgelöscht, sanft, schmerzlos, aber auch ohne Gnade. Seinen schlimmsten Alptraum hatte er einem anderen angetan. Nicht der Tod, sondern die Vorstellung eines Endes, dem nichts mehr folgte, hinter dem nur noch eine allumfassend Leere wartete. Er hatte ihn getötet, ohne ihn umzubringen.

»Petri, verdammt, sagen Sie etwas!« verlangte Sillmann. »Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt. Also gut, dann mache ich es allein. Stellen Sie sich in irgendeine Ecke, und zittern Sie meinetwegen ein bißchen vor Angst, aber stören Sie mich wenigstens nicht.«

Petri schwieg. Er hatte vergessen, wie man sprach. Die Schwärze in seinem Inneren war absolut, und die Welt vor seinen Augen erlosch in diesem Moment Sillmann verschwand, der letzte, winzige Ausschnitt der Wirklichkeit löste sich auf, und dann gab es nur noch ihn und den schwarzen Koloß, der ihn aus unsichtbaren Augen anstarrte.

Und dann nicht einmal mehr das. Es gab nur noch ihn. Kein Hier, kein Jetzt, keine Erinnerungen oder Gefühle; in der allumfassenden Leere, durch die er glitt, war nicht einmal mehr Platz für Furcht.

Petri war allein.

Die Ewigkeit wartete.