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»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte das Gesicht vor ihm. »Wenn wir die Nerven behalten, kann gar nichts passieren. Wir haben es schon einmal geschafft, und damals war es viel gefährlicher als heute.« Er sah Petri an, wartete vergebens auf eine Antwort und rüttelte schließlich unsanft an seiner Schulter. Petri rührte sich nicht Er wußte nicht, wer dieses Gesicht vor ihm war, und die Worte hatten jede Bedeutung verloren. Er hatte auch aufgehört zu beten. Er wußte nicht mehr, wie es ging und zu wem er hätte beten sollen.

»Verdammt, Petri, reißen Sie sich gefälligst zusammen!« schnauzte Sillmann. »Machen Sie nicht ausgerechnet jetzt schlapp!« Er packte Petri an beiden Schultern und schüttelte ihn so heftig, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. »Ich brauche Sie!«

Der Raum war weiter zusammengeschmolzen. Er war jetzt kleiner, als er eigentlich sein konnte, um ihnen beiden Platz zu bieten, eine winzige, schrumpfende Blase der Wirklichkeit, um die herum nichts mehr war - nicht einmal mehr Leere. Und doch war plötzlich noch etwas da: eine schwarze Gestalt, die hinter dem namenlosen Gesicht vor ihm stand und ihn anstarrte. In der sich immer weiter ausbreitenden Leere in seinem Kopf blitzte noch einmal eine Erkenntnis auf: Er wußte, wer er war, und er wußte auch, warum er hier war. In Wahrheit war er die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, all die Jahre und Jahre, die vergangen waren.

»Ja, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt«, sagte Sillmann. »Aber gut - geben Sie her!« Mit einer groben Bewegung riß er Petri die Arzttasche aus der Hand und begann hektisch darin herumzukramen. Schließlich hob er ein ledernes Spritzenetui in die Höhe und ließ die Tasche achtlos fallen.

»Ist es das? Das ist es, nicht wahr? Also gut, dann mache ich es eben selbst. Ich werde auch allein damit fertig, verdammt. So, wie ich immer allein mit allem fertig werden mußte.«

Er klappte das Etui auf. Darin lag eine verchromte Spritze mit großen Scherengriffen, in deren Glaskolben eine goldfarbene Flüssigkeit schimmerte. Sie war der Grund, aus dem der Vernichter gekommen war. Sie hatten ein Leben ausgelöscht, sanft, schmerzlos, aber auch ohne Gnade. Seinen schlimmsten Alptraum hatte er einem anderen angetan. Nicht der Tod, sondern die Vorstellung eines Endes, dem nichts mehr folgte, hinter dem nur noch eine allumfassend Leere wartete. Er hatte ihn getötet, ohne ihn umzubringen.

»Petri, verdammt, sagen Sie etwas!« verlangte Sillmann. »Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt. Also gut, dann mache ich es allein. Stellen Sie sich in irgendeine Ecke, und zittern Sie meinetwegen ein bißchen vor Angst, aber stören Sie mich wenigstens nicht.«

Petri schwieg. Er hatte vergessen, wie man sprach. Die Schwärze in seinem Inneren war absolut, und die Welt vor seinen Augen erlosch in diesem Moment Sillmann verschwand, der letzte, winzige Ausschnitt der Wirklichkeit löste sich auf, und dann gab es nur noch ihn und den schwarzen Koloß, der ihn aus unsichtbaren Augen anstarrte.

Und dann nicht einmal mehr das. Es gab nur noch ihn. Kein Hier, kein Jetzt, keine Erinnerungen oder Gefühle; in der allumfassenden Leere, durch die er glitt, war nicht einmal mehr Platz für Furcht.

Petri war allein.

Die Ewigkeit wartete.

36. Kapitel

Sie konnten nur wenige hundert Meter weit gefahren sein. Sendig war einmal abgebogen und hatte den Wagen dann auf den Hof eines verlassenen Fabrikgeländes gelenkt und so geparkt, daß er von der Straße aus nicht sofort gesehen werden konnte, ehe er wieder nach hinten zu ihm und dem Jungen gekommen war. Mark war noch immer nicht wach geworden, aber Bremer hatte das Gefühl, daß er sich jetzt ein wenig stärker bewegte. Seine Hand suchte immer wieder nach der Spritze in seiner rechten Jackentasche. Er war beinahe froh, daß Sendig gekommen war. Die wenigen Minuten, die er allein mit dem Jungen hier hinten im Wagen zugebracht hatte, waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Er war nahe daran gewesen, ihm aus reiner Panik die Injektion schon jetzt zu geben.

»Warum zum Teufel wird er nicht wach?« fragte Sendig. Der Krankenwagen war zu klein, um unruhig darin auf und ab zu marschieren, und so bewegte er sich nervös auf der Stelle. Er sah sehr blaß aus, und in seinem Blick war noch immer das gleiche wilde Flackern, das Bremer vorhin schon so erschreckt hatte.

»Der Arzt hat von fünf Minuten gesprochen, vielleicht sogar zehn«, sagte Bremer. »So lange sind wir noch gar nicht unterwegs.«

»Ich weiß«, sagte Sendig nervös. »Aber fünf Minuten können eine verdammt lange Zeit sein, wenn man wartet. Eine Ewigkeit.«

Bremer sah an ihm vorbei auf das Gesicht des bewußtlosen Jungen herab, und plötzlich ergriff ihn ein Gefühl von Unwirklichkeit. Dies alles war ein Alptraum, damit hatte er sich schon abgefunden - aber nun begann er wirklich absurd zu werden. Großer Gott, hatte er das wirklich alles erlebt? Saß er wirklich hier und hatte Sendig dabei geholfen, einen Krankenwagen zu kidnappen und einen halbtoten Jungen zu entführen?!

»Sagen Sie mir, warum«, flüsterte er. Seine Stimme war ganz leise, aber sie klang verzweifelt, beinahe Sehend. »Bitte sagen Sie mir, warum ich das alles getan habe!«

»Wissen Sie das immer noch nicht?« antwortete Sendig, beinahe ebenso leise, aber in einem gänzlich anderen Ton. »Wegen dem, was Sie gesehen haben.« Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Wegen des Dings, das dort draußen auf Sie wartet. Aber wissen Sie was, mein Freund? Sie können rennen, so weit und so lange sie wollen - es wird immer schon da sein, wenn Sie ankommen. Es ist nicht dort draußen. Es ist in Ihnen.«

Bremer sah ihn groß an. »Sie wissen - ?«

Sendig unterbrach ihn; Die Karikatur eines Lächelns verzerrte seine Lippen, aber nicht einmal sie vermochte die Furcht in seinem Blick auszulöschen. »Sehen Sie doch in den Spiegel, Mann«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie dort draußen gesehen haben, oder vorhin, im Treppenhaus im Präsidium, und, ehrlich gesagt, ich bin auch nicht scharf darauf, es zu wissen. Aber was immer es ist, es treibt Sie vor Angst fast in den Wahnsinn - habe ich recht?«

Bremer nickte. Er schwieg.

»Sehen Sie«, sagte Sendig leise und nun gar nicht mehr lächelnd, »und das ist der Grund, aus dem wir hier sind. Aus dem dieser arme Junge da wahrscheinlich die Nacht nicht überlebt, aus dem ein Dutzend Menschen gestorben oder verrückt geworden sind und aus dem sie uns jagen.«

»Sie. Es sind die gleichen, die Sie damals -«

»Die mich gekauft haben, ja«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Sprechen Sie es ruhig aus. Ich habe mich kaufen lassen, und es war der größte Fehler meines Lebens. Sie haben mir nicht gesagt, was ich wirklich dafür bezahlen muß.«

»Und wer sind... sie?« fragte Bremer zögernd.

Sendig hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Der MAD, der Verfassungsschutz, die Amerikaner... Wahrscheinlich alle zusammen. Ich habe versucht, es herauszubekommen, aber es ist mir nicht gelungen. Auf jeden Fall steckt die CIA mit drin und das Pentagon. Es sind die gleichen, die Sillmann bezahlt haben, aber das ist auch alles, was ich weiß.«

»Sillmann?«

»Sillmann«, bestätigte Sendig. Er warf einen prüfenden Blick in Marks Gesicht, als wolle er sich davon überzeugen, daß der Junge noch schlief und nicht etwa hörte, was er sagte. »Seinen Vater. Und Löbach. Und wahrscheinlich noch eine ganze Menge anderer. Die meisten von ihnen dürften mittlerweile tot sein. Es lohnt sich selten, ein Geschäft mit dem Teufel zu machen.« Er schwieg für einige Sekunden, dann griff er in die Manteltasche und zog eine Packung Zigaretten hervor. Die Luft im Wagen wurde schon nach dem ersten Zug schlecht, und Bremer mußte husten, aber er protestierte nicht.

»Ich habe Sie belogen, als ich behauptet habe, daß ich nicht weiß, was die Schrift an Löbachs Wand bedeutet«, fuhr er nach einer Weile fort »AZRAEL - erinnern Sie sieh?«