»Tu, was du tun musst.«
Trish hätte am liebsten losgeheult. Sie schrie ihre Freundin an: »Siehst du denn nicht, was hier los ist? Siehst du nicht, was der Postbote macht?«
»Ich sehe besser als du. Geh jetzt, bitte.«
Trish ließ sich aus der Tür schieben. Sie verharrte noch eine Zeitlang auf der Veranda, nachdem die Tür zugeschlagen worden war und sie gehört hatte, wie das Türschloss abgeschlossen, der Riegel vorgeschoben und die Kette eingeklinkt wurde. Sie dachte über die Päckchen in dem Zimmer nach. Vielleicht versuchte der Postbote einfach nur, Irene Angst einzujagen. Vielleicht enthielten die Pakete gar keine Körperteile.
Vielleicht aber doch.
Was sollten sie tun, sie und Doug? Sie konnten nicht einfach herumsitzen und warten, bis alle tot oder in den Wahnsinn getrieben worden waren. Irgendetwas musste passieren. Aber was? Die Polizei war keine Hilfe. Die Führungsebene des Postal Service offenbar auch nicht.
Vielleicht sollte jemand ihn umbringen.
Der Gedanke kam ungebeten, und obwohl Trish ihn beiseitezuschieben versuchte und sich sagte, dass es falsch und unmoralisch und ungesetzlich sei, blieb der Gedanke in ihrem Kopf.
Und als sie zu Hause ankam, hörte die Idee sich bereits ziemlich gut an.
39.
Das Telefon klingelte. Doug war auf der Stelle wach. Er griff über Trishs schlafenden Körper hinweg und nahm den Hörer mitten im zweiten Klingeln ab. Das Gefühl einer bösen Vorahnung war mit ihm erwacht, und er warf einen Blick auf den Wecker auf der Frisierkommode, während er den Hörer ans Ohr drückte.
Viertel nach zwei.
»Hallo?« Dougs Stimme klang müde und ein wenig genervt, doch es lag auch eine leichte Schärfe darin, da er sich auf schlechte Neuigkeiten gefasst machte. Niemand rief nachts um Viertel nach zwei an, wenn es keine schlechten Neuigkeiten gab.
»Mister Albin?« Es war Mike Trenton. Dougs Kehle schnürte sich zu, die Brust wurde ihm eng, und er musste sich zwingen zu schlucken. Der Polizist klang fremd. Nicht angstvoll, doch es kam dem sehr nahe.
»Was ist passiert?«, fragte Doug.
»Es geht um Mister Beecham. Er ... äh, er ist tot.«
Doug schloss die Augen, ließ den Kopf aufs Kissen sinken.
»Wir haben ihn auf dem Fußboden seiner Zelle gefunden«, fuhr Mike fort. »Seine Stirn ist vollständig eingedrückt, und an der Wand und auf dem Boden ist überall Blut. Es ist schwer zu sagen, aber es sieht so aus, als hätte er den Kopf so lange gegen die Wand gerammt, bis er ihn sich eingeschlagen hat. Als wir ihn eingewiesen haben, haben wir ihm die Kleidung und Schnürsenkel weggenommen, aber er schien nicht gefährlich zu sein, weder für sich selbst noch für andere, und wir hielten es nicht für nötig, ihn zu fesseln oder ...«
Doug streckte den Arm über Trish hinweg und legte den Hörer auf.
»Was ist los?«, fragte Trish schlaftrunken.
Doug sagte nichts, starrte nur ins Leere, und einen Augenblick später war Trish wieder eingeschlafen.
Doug schlief bis zum Morgen nicht mehr ein.
40.
Das Begräbnis war kurz und spärlich besucht. Hobie Beecham war auch zu seinen besten Zeiten nicht der beliebteste Mann in Willis gewesen, und die erfolgreiche Verleumdung Hobies durch den Postboten hatte ein Übriges getan. Während Doug am offenen Grab stand, ertappte er sich bei dem Gedanken, ob wohl mehr Leute gekommen wären, wäre der Mord nicht geschehen. Der ständige psychische Angriff des Postboten auf die Stadt schien den Menschen viel Energie entzogen zu haben, hatte sie weniger gesellig und weniger vertrauensvoll gemacht. Er fragte sich, ob Bob Rondas Tod heute noch dieselbe Menschenmenge anziehen könnte wie vor einem Monat.
Es war makaber, ein Begräbnis als einen Beliebtheitswettbewerb zu betrachten, bei dem das abschließende Urteil über das Leben eines Menschen durch die Zahl der Trauergäste gefällt wurde. Doch es war auch auf merkwürdige Weise angemessen, denn viele Menschen bemaßen den Wert eines anderen nach der Zahl seiner gesellschaftlichen Beziehungen. Besonders in einer kleinen Stadt wie Willis. Ein Mann konnte reich, berühmt, erfolgreich sein, aber wenn er in Willis lebte und nicht verheiratet war, wenn er am Freitagabend allein zu Haus blieb, anstatt mit Freunden oder Familie auszugehen, dann stimmte definitiv etwas nicht mit ihm.
Und mit Hobie hatte schon immer etwas nicht gestimmt. Er hatte es selbst oft zugegeben. Sich Freunde zu machen, wie er immer gerne sagte, war nicht sein wichtigstes Ziel im Leben. Doug ertappte sich dabei, dass er lächelte, auch wenn seine Augen feucht waren. Hobie war laut gewesen, anstößig und leidenschaftlich unabhängig. Er war so, wie er war, und wenn es jemandem nicht gefiel, war es dessen Problem.
Hobie war überdies ein guter Freund und ein verdammt guter Lehrer gewesen. Der Friedhof wäre voll gewesen, wären all die Schüler gekommen, die Hobie im Lauf der Jahre unterrichtet hatte, denen er behilflich gewesen war, die er unterstützt und beraten hatte.
Doug blickte zu Trish hinüber. Zwischen Hobie und ihr war wirklich keine Liebe verloren gegangen, aber nun weinte sie, und mehr als der Sarg in der Grube, mehr als die Trauergemeinde, mehr als der Grabstein machten ihre Tränen ihm bewusst, dass sein Freund sie wirklich und wahrhaftig verlassen hatte.
Doug blickte zum Himmel, während auch ihm die Tränen über die Wangen liefen, und versuchte, an etwas anderes zu denken, damit er nicht zu schluchzen begann.
Billy nahm es schwer. Diesmal hatten Doug und Trish sich mit ihm zusammen hingesetzt, hatten alles besprochen und es ihm überlassen, ob er an der Beerdigung teilnehmen wollte oder nicht. Er hatte beinahe Ja gesagt, weil er sich verpflichtet fühlte und seine Betroffenheit zeigen wollte. Doch Trish hatte ihm versichert, dass sie nicht von ihm erwarte, mit zur Beerdigung zu gehen, und dass Hobie, wo immer er jetzt sei, das verstehen würde. Und so hatte Billy es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Diesmal gab es niemanden, der auf ihn aufpasste; deshalb machten Trish und Doug sich Sorgen, ihn allein zurückzulassen. Doch Billy hatte versprochen, alle Türen abzuschließen, die Fenster zu verriegeln und im oberen Stock zu bleiben, bis sie zurückkehrten. Doug sagte ihm, dass es in Ordnung sei, wenn er unten fernsah oder sich in der Küche etwas zu essen machte, doch Billy erklärte mit einer Unerbittlichkeit, die seine Eltern überraschte, dass er nicht nach unten gehen würde, bis sie zurück wären.
Passenderweise war der Himmel an diesem Morgen bedeckt, begräbnisgrau. Die Sturmsaison stand bevor, und von jetzt bis zum Herbst würde das Wetter durch die sich abwechselnden Extreme von trockener Hitze und kaltem Regen bestimmt. Doug sprach ein paar Worte am Sarg, ebenso wie mehrere andere Lehrer, und dann begann der Grabredner, der keiner Glaubensgemeinschaft angehörte, mit seiner Lobpreisung und Totenweihe. Noch ehe er geendet hatte, fiel bereits leichter Regen, der sich rasch in einen regelrechten Platzregen verwandelte. Niemand hatte einen Schirm mitgebracht, und so rannten alle über den Friedhof zu ihren Wagen.
Doug dachte an die Autos und Fahrzeugteile auf Hobies Grundstück und fragte sich, was wohl damit geschehen würde.
Er und Trish verließen als Letzte den Friedhof und gingen langsam zwischen den Grabsteinen entlang, obwohl der Regen heftig auf sie niederprasselte. Sie sahen, wie Yard Stevens' Lincoln den Parkplatz verließ und der kurzen Reihe von Fahrzeugen folgte, die die Straße entlangfuhren.
Hobies Eltern waren nicht gekommen, obwohl Mike gesagt hatte, dass sie benachrichtigt worden waren und sich um alle Arrangements gekümmert hatten. Doug ertappte sich bei der Frage, ob sie vielleicht das Begräbnis ihres Sohnes verpasst hatten, weil ihre Post manipuliert worden war. Es war gut möglich, dass sie einen Brief von der Friedhofsverwaltung bekommen hatten, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass Hobies Begräbnis auf Grund von Terminschwierigkeiten um einen Tag verschoben werden müsste. Vielleicht kamen sie erst morgen - nur um festzustellen, dass ihr Sohn bereits beerdigt und das Begräbnis vorbei war.