Dann erstarrte er.
Auf dem Rand des Waschbeckens stand ein Umschlag.
Ein zweiter lag auf dem geschlossenen Toilettendeckel.
Am liebsten hätte Billy losgeschrien, aber er wusste, dass niemand ihn hören würde. Seine Schreie würden nur alarmieren, wer immer da draußen war.
Der Postbote ...?
Oder hier drinnen.
Billy zog sich in das Schlafzimmer seiner Eltern zurück. Auf der Frisierkommode sah er einen verschlossenen Umschlag, einen anderen auf dem Bett.
Das Haus erschien ihm plötzlich unheimlich und Furcht erregend. Langsam, schweigend, ging er in das vordere Zimmer. Er merkte, dass die Platte vor dem Fenster fast den halben Raum ins Dunkel tauchte und schattige Ecken erzeugte, in denen sich jemand verstecken konnte.
Dann entdeckte Billy eine Spur aus Umschlägen, die die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer führte.
Vorsichtig hob er den Hörer des Telefonapparats neben dem Fernseher ab. Die Leitung war tot.
Von oben hörte er ein Rascheln.
Er musste hier raus! Aber wohin konnte er gehen? Es gab nicht viele Häuser in der Nähe. Er konnte mit Sicherheit nicht zu den Nelsons gehen. Er konnte auch nicht zu Lanes Haus.
Das Fort!
Ja, das Fort. Er konnte zum Fort gehen und dort warten, bis seine Eltern nach Hause kamen. Er würde sich dort verstecken können und wäre in Sicherheit.
So leise er konnte öffnete Billy die Vordertür und ging auf die Veranda. Die Holzdielen knarrten unter seinen Füßen. Er blieb bewegungslos stehen und horchte, ob sich oben irgendetwas tat, bereit, sofort loszurennen. Doch er hörte nichts.
Billy war sich vorher nie bewusst gewesen, wie viele Geräusche die Veranda tatsächlich machte, und es schien eine quietschende und knarrende Ewigkeit zu dauern, ehe er die Stufen erreichte und sie hastig hinunterstieg. Der Kies unter seinen Füßen knirschte laut wie Donner, doch er ignorierte es und rannte so schnell er konnte den Weg zum Fort entlang. Er sprang über die vertrauten Felsbrocken und Baumstämme, machte einen Bogen um die berüchtigten Mesquitebüsche mit ihren langen Dornen. Mit einem Sprung war er auf dem getarnten Dach des Forts. Dann ließ er sich hineinfallen, schloss und verriegelte die Klapptür.
Einen Augenblick lang lag er am Boden, nach Atem ringend, versuchte die Luft anzuhalten und horchte, ob jemand ihn verfolgte. Doch das einzige Geräusch, das er hörte, war das abscheuliche Krächzen eines Eichelhähers in einem weit entfernten Baum.
Er war in Sicherheit.
Billy stand auf und betete, dass seine Eltern bald nach Hause kommen würden. Dass er bald das Geräusch ihres Wagens hören würde.
Wieder horchte er auf jedes fremde Geräusch, doch es war still.
Billy schaute sich im Hauptraum um. Jetzt, da Lane weg war, wirkte das Fort verlassen. Wenn er sonst ohne Lane hierhergekommen war, war es auch merkwürdig gewesen, aber es war immer noch ihr Fort gewesen. Jetzt wusste Billy nicht genau, wem es eigentlich gehörte. Das Fort befand sich im Grüngürtel nahe dem Haus seiner Eltern, aber das Baumaterial stammte von Lanes Vater, und sie hatten die ganze Arbeit gemeinsam erledigt. Es war seltsam ohne Lane.
Langsam bewegte Billy sich durch den Raum wie ein Fremder, berührte Gegenstände, die ihm einst vertraut gewesen waren, von denen er sich nun jedoch unglaublich weit entfernt fühlte. Alles kam ihm fremd vor, unheimlich, als gehörte es ihm nicht mehr. So musste ein Haus auf Leute wirken, die sich hatten scheiden lassen.
Immer wieder blieb er stehen, verharrte, horchte, ob es draußen irgendwelche Geräusche gab. Aber da war nur Stille.
Billy ging ins Hauptquartier und blickte auf den Stapel Zeitschriften auf dem Boden. Sogar die Playboys schienen ihm nicht mehr zu gehören - und ebenso wenig Lane. Die Zeitschriften schienen irgendwo in einer zeitlosen Zwischenwelt gefangen zu sein, ohne Eigentümer. Billy nahm eines der Hefte in die Hand. Es klappte »Girls in Uniform« auf und sah den nackten Körper der Briefträgerin.
»Billy Albin«, sagte eine Stimme.
Er bewegte sich nicht, hielt den Atem an und versuchte, kein Geräusch zu machen. Sein Herz hämmerte wild.
»Billy Albin.«
Der Postbote war direkt vor dem Fort. Irgendwie hatte er Billy aufgespürt und war ihm gefolgt. Billy war zu entsetzt, um sich zu bewegen. Unfähig, noch länger den Atem anzuhalten, versuchte er, leise auszuatmen, doch in der Stille klang das Geräusch wie ein Hurrikan. Die Schritte draußen verstummten.
»Billy.«
Er rührte sich nicht.
»Billy.«
Nun kam die Stimme von der anderen Seite, obwohl Billy keine Schritte gehört hatte, kein raschelndes Laub, überhaupt kein Geräusch.
»Billy.«
Wieder war da die Stimme - ein leises, beharrliches Wispern. Er wollte schreien, wagte es aber nicht. Der Postbote wusste offensichtlich, wo er war, doch Billy wollte es ihm nicht auch noch bestätigen. Vielleicht, wenn er sich ganz ruhig verhielt und abwartete, vielleicht würde der Postbote dann weggehen ...?
»Billy.«
Nein. Er würde bestimmt nicht weggehen.
Billy stand starr vor Angst da und überlegte verzweifelt, was er tun konnte. Es gab nur einen Eingang zum Fort und damit keine Möglichkeit, hier herauszukommen, ohne dass der Postbote ihn sah. Lane und Billy hatten oft darüber geredet, einen Notausgang zu bauen, indem sie einen Tunnel unter der Erde gruben, aber sie hatten es nie getan.
Billy zitterte jetzt am ganzen Körper. Welche Möglichkeiten hatte er? Nur eine: Wenn er es zum Dach schaffte, durch die Klapptür, ohne dass der Postbote ihn sah oder hörte ...
»Billy.«
... dann konnte er springen und sich in Sicherheit bringen.
Auf Zehenspitzen ging er in den Hauptraum zurück.
»Billy.«
Diesmal war die Stimme näher. Ganz nahe. Über ihm. Billy sah nach oben.
Grinsend starrte der Postbote durch die offene Klapptür auf ihn herunter. Lüsternheit lag in diesem Grinsen, und eine verrückte Grausamkeit funkelte in den kalten blauen Augen.
»Willst du ein bisschen Spaß haben?«, fragte der Postbote.
Billy wich ins Hauptquartier zurück. Dabei fiel sein Blick auf den Stapel Playboys. Aber es waren keine Playboys. Es waren Playgirls.
»Billy«, sagte der Postbote wieder.
Er war jetzt in Panik. Wild trat er gegen die Rückwand des Hauptquartiers und versuchte, eines der Bretter loszutreten, sodass er nach draußen kriechen konnte. Er trat, so fest er konnte, legte in jeden Tritt die Kraft der Verzweiflung. Doch Lane und er hatten das Fort zu stabil gebaut. Die Bretter wollten nicht nachgeben.
Billy hörte, wie der Postbote sich durch die Klapptür auf den Boden des Hauptraums fallen ließ.
»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Billy«, sagte der Postbote.
»Hilfe!«, schrie Billy so laut er konnte. Panisch trat er gegen die Wand. »Mom! Dad!«
»Möchtest du ein bisschen Spaß haben, Billy?«
Billy drehte den Kopf und sah über seine Schulter den Postboten, der lächelte und sein Geschenk darbot.
Als Trish und Doug vom Supermarkt zurückkamen, war Billy nicht zu Hause. Als er auch eine Stunde später noch nicht zurück war, geriet Trish in Panik. Sie bat Doug, Mike im Polizeirevier anzurufen. Dieser versprach, die Stadt zu durchkämmen, angefangen beim Postamt. Trish selbst rief der Reihe nach Billys Freunde an. Sie wählte die Nummer der Chapmans. Lane nahm den Hörer ab.
»Hallo, Lane«, sagte Trish. »Mrs. Albin hier. Ist Billy bei euch?«
»Nein.« Lanes Stimme klang kalt, beinahe wie die des Postboten, und Trishs Furcht wuchs.
»Hast du ihn heute schon gesehen?«
»Nein.« Lane machte eine kleine Pause. »Aber ich habe Sie gesehen.«
Es klickte in der Leitung, als die Verbindung abgebrochen wurde.
Trish legte den Hörer auf. Was hatte das zu bedeuten? Sie wusste es nicht, und sie war nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte. Sie wollte gerade die Nummer der Zwillinge wählen, als sie Doug durch die Hintertür hereinkommen hörte.