»Paula?« Er blickte hoch. »Paula Wayne?«
Sie nickte und überflog das Schreiben.
»Ich dachte, du wüsstest nicht, wohin sie gezogen ist.«
»Wusste ich auch nicht.« Trish schüttelte den Kopf. »Wie hat sie mich bloß gefunden?«
»Wahrscheinlich über deine Eltern.«
»Aber die sind zweimal umgezogen, seit ich Paula zuletzt gesehen habe. Und sie haben eine Geheimnummer.« Sie lächelte. »Ich kann es kaum glauben! Ich weiß nicht, wie in aller Welt Paula mich gefunden hat, aber ich freue mich darüber.«
»Willst du den Brief denn gar nicht lesen?«
»Und ob ich das will!«, antwortete sie und blickte auf das Papier. »Warte mal.« Sie las schnell; ihr Blick huschte über die sauber geschriebenen, regelmäßigen Buchstaben. »Sie hat sich von Jim scheiden lassen und ist nach L.A. gezogen. Sie arbeitet jetzt als Anwaltsgehilfin.«
»Sie hat sich scheiden lassen?« Doug lachte. »Ich dachte, die beiden wären das ideale Paar.«
»Pssst«, sagte Trish und las weiter. »Sie schreibt, dass sie glücklich ist, aber Santa Fe vermisst ... Und sie hofft, dass ich sie nicht vergessen habe ... Vielleicht macht sie im August eine Reise zum Grand Canyon ... Sie möchte wissen, ob sie vorbeikommen und uns besuchen kann.«
»Ich werde darüber nachdenken«, bemerkte Doug.
Sie kicherte, las schweigend weiter und drehte das Blatt um.
»Was ist?«
»Das ist persönlich. Frauengespräche.« Trish las die zweite und dritte Seite, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Paula. Ich kann's nicht glauben.«
Doug nahm einen Schraubenzieher aus der Schublade. »Du vermisst sie, stimmt's?«
»Natürlich. Oh - hier, das hätte ich beinahe vergessen. Ein bisschen Post für dich.« Sie reichte ihm die anderen drei Umschläge.
Er riss den obersten auf. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er.
»Was?«
»Er ist von Don Jennings.«
»Was! Den hast du nicht mehr gesehen, seit ...«
»... seit du Paula das letzte Mal gesehen hast«, beendete er für sie den Satz.
Sie lachte. »Was für ein seltsamer Zufall.« Sie trat vor, um Doug über die Schulter zu spähen, doch er hielt den Brief von ihr weg.
»Das ist persönlich«, erklärte er.
Trish stieß ihn an. »Sehr witzig. Lass mich auch lesen!«
»Okay, okay.«
Dann stand sie neben ihm und brachte sich auf den neuesten Stand der Ereignisse in Dons Leben. Don hatte an der Highschool Sozialwissenschaften unterrichtet; er war zur selben Zeit Lehrer geworden wie Doug und hatte an der gleichen Schule unterrichtet. Als Neulinge waren sie anfangs aus der Notwendigkeit heraus Freunde geworden und waren sich dann nahegekommen. Don, ein Stadtmensch, war in Willis nie wirklich glücklich gewesen, und vor ungefähr zehn Jahren war er nach Denver gewechselt. Die beiden Familien waren eine Zeit lang in Kontakt geblieben, hatten sich Briefe geschrieben und angerufen. Doug und Trish und Billy, damals noch ein Baby, hatten die Jennings in einem Sommer sogar in Denver besucht. Aber es waren neue Freunde aufgetaucht; die Verpflichtungen waren gewachsen, und es war nicht mehr so einfach gewesen, in Kontakt zu bleiben. Nach und nach war die Verbindung abgerissen. Doug hatte oft zu Trish gesagt, er müsse Don endlich mal anrufen oder ihm schreiben, aber irgendwie hatte er es nie getan.
Und nun hatte Don geschrieben, um ihm mitzuteilen, dass er und Ruth nach Arizona zurückkämen. Er hatte eine Anstellung an der Camelback Highschool im Valley, schrieb er, und die beiden Familien müssten sich unbedingt sehen, sobald er wieder in Arizona sei.
»Wirst du ihm zurückschreiben?«, fragte Trish, nachdem sie fertig gelesen hatte.
»Na klar.« Doug öffnete die anderen beiden Briefe. Der eine kam von der Schulverwaltung: Für das nächste Jahr war mit der Lehrergewerkschaft eine Lohnerhöhung in Höhe der Inflationsrate beschlossen worden. Das andere Schreiben kam von der Schulbehörde: Die Abgabefrist für die Stipendienanträge lief eine Woche später aus, als auf den Formularen angegeben; für etwaige Probleme, die durch den Druckfehler aufgetreten sein könnten, bitte man um Entschuldigung.
Doug sah Trish ungläubig an. »Lass mich das mal auf die Reihe bringen: Du und ich hören beide von Freunden, die wir seit Jahren nicht gesehen haben und zu denen wir keinen Kontakt mehr hatten; wir kriegen die Gehaltserhöhung, die wir haben wollten, und mein Antrag wird ohne Probleme rechtzeitig ankommen, weil die Frist eine Woche später endet, als ich dachte?«
»Schwer zu glauben, nicht?«
»Ich kaufe heute noch ein Lotterielos. Wenn unser Glück anhält, sind wir bis Mitternacht Millionäre.«
Trish lachte.
»Du glaubst, ich mache Witze? Das ist nicht bloß ein glücklicher Zufall. Das ist Glück!« Doug umfasste ihre Taille und zog sie an sich. »Wir haben eine Glückssträhne, Baby.«
»Baby?«
Doug drehte sich um. Billy stand in der Tür. Er sah müde aus, aber er lächelte, als er in die Küche kam. »Kann ich dich auch so nennen, Mom?«
Trish wand sich aus Dougs Armen und drehte sich zu Billy um. »Sehr witzig. Dein Vater spielt wie üblich den Clown. Du solltest aus seinen Fehlern lernen.«
Doug versuchte, sie zu fassen, doch sie entzog sich ihm und ging zum Schlafzimmer, und Doug gelang es nur, ihr einen Klaps auf den Hintern zu geben.
Billy sah seinen Eltern kopfschüttelnd zu, ging ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher an und setzte sich auf die Couch. Doug ging in die Küche und beobachtete seinen Sohn aufmerksam. Sie hatten am Abend zuvor mit Billy gesprochen und eine lange Diskussion über den Tod und das Sterben geführt; Doug hatte gehofft, dass dabei viele Ängste angesprochen worden waren, aber anscheinend waren nur wenige bewältigt worden, wenn überhaupt: Billy war offensichtlich durch den Selbstmord des Postboten noch immer verstört. Doug musste gestehen, dass das auch für ihn selbst galt. Wie Billy hatte er sich nie wirklich mit dem Tod auseinandersetzen müssen. Natürlich hatte er Menschen gekannt, die gestorben waren, doch sie alle waren - wie Ronda - eher Bekannte gewesen als enge Freunde; Doug war nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn seine Eltern sterben würden, oder Trish, oder Billy.
Trotz des Gesprächs mit seinem Sohn, in dem es vor allem um die Notwendigkeit gegangen war, sich seinen Ängsten zu stellen, wollte Doug nicht bei diesem Thema verweilen. Es war zwar ein oberflächlicher Ausweg, doch er zog es vor, lieber sein Leben weiterzuleben, als wäre nichts geschehen.
Trotzdem musste er jetzt an Bob Ronda denken. Schaudernd stellte Doug sich vor, wie der Postbote ausgesehen haben musste, nachdem er sich den Schädel weggeblasen hatte und Blut und Hirn an die Fliesen gespritzt waren. Der Tod war in jeder Form ein Thema, mit dem man nur schwer umgehen konnte, doch ein so schrecklicher Selbstmord war schmutzig und grausig zugleich.
Er blickte auf die Briefe in seiner Hand und dachte an den neuen Postboten. Der Zufall, an einem einzigen Tag so viel erfreuliche Post zu bekommen, war wunderbar, aber auch ein wenig unheimlich. Hätte Bob Ronda diese Briefe zugestellt, wäre Doug vor Freude außer sich gewesen. Doch wenn er sich vorstellte, wie die blassen, heißen Hände des neuen Postboten die Umschläge in den Kasten schoben und dann sorgfältig die Klappe schlossen, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie irgendwie ... beschmutzt waren. Und obwohl eigentlich nichts passiert war, das seine Laune trüben konnte, war er nicht mehr so glücklich wie noch einen Augenblick zuvor. Er blickte zu Billy hinüber.
»Um welche Zeit ist der Postbote gekommen?«, fragte er beiläufig.
»Hab ich nicht mitgekriegt«, antwortete Billy, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
Doug erinnerte sich an das spöttische Lächeln des Postboten, an seine arrogante Miene. Er ertappte sich dabei, wie er sich fragte, was für einen Wagen der Mann wohl fuhr. Und wie mochte er heißen?