»Mister Smith«, rief Mike. »Mister Smith, sind Sie da?«
Von den Geräuschen ihres Atmens und ihrer Schritte abgesehen, war es völlig still im Haus. Die Männer gingen durchs Wohnzimmer, durchs Esszimmer und durch die Küche und bestaunten die Vollkommenheit der geisteskranken Renovierung durch den Postboten. Während sie durch den Flur schritten, wurde der furchtbare Verwesungsgeruch stärker. Mike, der die Männer nun anführte, öffnete eine Schlafzimmertür.
Und da war Howard.
Aufgrund des Gestanks - ein Übelkeit erregender, scharfer Geruch nach Gas und Galle und Fäkalien - war klar, dass Howard schon seit langem tot war, doch die Anzeichen waren auf seinem Gesicht nicht sofort erkennbar. Der Postbote hatte Howards Lippen grob mit einem dunkelroten Lippenstift angemalt, und ungeschickt aufgetragener Lidschatten bildete Ringe um die weit geöffneten, starr blickenden Augen des Postchefs. Auf seinen blassen, eingesunkenen Wangen waren zwei rosa Kreise aus Rouge zu sehen. Howards Haar war nach seinem Tod weitergewachsen; es war auf seinem Kopf zu einer feminin wirkenden Welle zusammengedreht, die von fettigem, parfümiertem Haargel in Form gehalten wurde. Seine Finger- und Fußnägel waren ebenfalls weitergewachsen und ekelhaft lang. Der Postbote hatte sie leuchtend rot lackiert.
Howard saß in einem Sessel in der Mitte des Zimmers und starrte in einen toten Fernseher, das einzige andere Möbelstück im Raum. Auf dem Boden um ihn herum lagen verschimmelte Brotkrusten, alte Verpackungen von Fertigkuchen und die Knochen von Ratten.
Mike nahm ein Funkgerät von einem der Polizisten, sagte den patrouillierenden Officers, was sie gefunden hatten, und ordnete an, dass der Gerichtsmediziner zu Howards Haus kommen sollte, wenn er mit dem Chief fertig war.
Doug verließ das Zimmer und ging durch den Flur und das Wohnzimmer nach draußen, um Luft zu schnappen. Selbst mit zugehaltener Nase konnte er die Verwesung riechen, und der Magen hatte sich ihm umgedreht, als er gesehen hatte, was Howard angetan worden war. Ein Teil von ihm hätte Mike am liebsten gepackt und geschüttelt und geschrien: »Ich habe es Ihnen ja gesagt!« Aber Doug wusste, dass das dumm und sinnlos war.
Er stand auf dem toten Rasen, starrte zum Himmel und atmete tief durch. Die Sonne ging unter, die Schatten wurden länger. In anderen Städten überall in Arizona, überall in den Staaten machten es sich die Menschen jetzt beim Abendessen gemütlich, plauderten, schauten sich die Nachrichten im Fernsehen an. Aber hier war solche Normalität nur noch Erinnerung.
Doug spürte eine Hand auf der Schulter. Es war Mike. »Die Streifenwagen melden, dass sie keine Spur von ihm haben«, sagte er. »Haben Sie eine Idee, wo er sein könnte?«
Im Clear Creek, wollte Doug gerade antworten; dann aber sah er die schmale Sichel des Mondes, die im Osten über dem sich verdunkelnden Horizont schwebte. Er erinnerte sich an den triumphierenden Tanz des Postboten. »Ich weiß, wo er ist«, sagte er und blickte Mike zuversichtlich in die Augen. »Rufen Sie alle zusammen. Alle. Diesmal können wir ihn nicht entwischen lassen.«
»Er wird nicht davonkommen«, sagte Mike leise. Er klopfte Doug auf die Schulter und ging ins Haus zurück. Doug hörte seine Stimme, konnte jedoch nicht verstehen, was Mike sagte. Doch Augenblicke später kamen die Polizisten nach draußen geeilt.
Die Felsen des Hügelkamms leuchteten orangefarben im Licht der untergehenden Sonne. Die Bäume waren schwarze, dreieckige Silhouetten. Tief im Westen war die Venus über dem Horizont erschienen; im Osten war der Mond aufgegangen und leuchtete immer heller. In einer Reihe fuhren sie langsam die schmale Straße hinauf. Unter ihnen schimmerten die Lichter der Stadt täuschend ruhig und harmlos, als könne in einem solch verschlafenen, kleinen Ort nichts Außergewöhnliches passieren.
Doug fuhr mit Tim in dessen Pick-up. Beide schwiegen während der Fahrt den Hügel hinauf. Das Funkgerät war ebenfalls ausgeschaltet, und das einzige Geräusch war das Rattern und Klappern des Lastwagens, wenn er über die ausgefahrenen Spuren und Bodenwellen der Straße holperte. Doug blickte in den Seitenspiegel und sah Mike und die anderen Polizisten, die ihm in ihren Streifenwagen folgten, während die Pick-ups die Nachhut bildeten. Als sie den Hügelkamm erreichten, sagte Doug zu Tim, er solle am Straßenrand anhalten. Mike gab durch das offene Fenster ein Zeichen, es ihnen gleichzutun.
Alle stiegen aus ihren Fahrzeugen. Die Nacht war kühl, ein früher Botschafter des nahenden Herbstes. Der Himmel war wolkenlos, und der Mond war von einem dunstigen, weißlichen Halo umgeben.
»Warum halten wir hier?«, fragte Mike.
Doug legte einen Finger auf die Lippen, um dem Polizisten zu bedeuten, dass er leise sein sollte. »Den Rest des Weges müssen wir laufen. Es ist die einzige Möglichkeit, den Mistkerl zu schnappen. Wenn er hört, dass Autos die Straße heraufkommen, ist er über alle Berge, ehe wir bei ihm sind.«
Mike nickte. »Okay. Dann führen Sie uns.«
Sie gingen langsam über den unebenen Boden, die Polizisten mit gezogener Waffe. Alle waren nervös, angespannt und wachsam, und alle horchten auf das leiseste Geräusch, achteten auf die kleinste Bewegung. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg durch dorniges Mesquitegestrüpp und zwischen riesigen Manzanitas hindurch.
Und dann hörten sie es. Den rhythmischen Sprechgesang, der Doug das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Er sah sich nach Mike um, der ihm zunickte, dass er weitergehen solle. So bewegten sie sich vorwärts, langsam, schweigend, bis sie den Rand des Feldes erreicht hatten. Doug blieb stehen.
Der Postbote tanzte, wie Doug es schon einmal gesehen hatte: wild und in völliger Hingabe, mit rudernden Armen und schwingenden Beinen.
Und der Sprechgesang.
»Weder Regen noch Schnee, Eis oder Hagel ...«
Das Frösteln, das Doug befallen hatte, wurde stärker, je näher sie kamen. Insgesamt waren sie zehn Männer, aber Doug hatte so viel Angst, als müsste er sich dem Postboten allein stellen.
Der Postbote tanzte weiter. Er sah erschreckend mager aus. Im Mondlicht wirkte er geisterhaft und sein Haar künstlich.
»Okay«, flüsterte Mike, der die Männer um sich versammelt hatte. »Wir werden im Halbkreis ausschwärmen. Über den Abhang kann er nicht runter. Er sitzt in der Falle.« Der Polizist blickte Doug an, dann wieder seine Kollegen. »Er ist zwar nicht bewaffnet, ist aber trotzdem brandgefährlich. Wenn er irgendwas versucht, schießt.«
Die Polizisten nickten.
»Los!«
Das Gras und die Büsche raschelten, als die Männer sich verteilten, doch die Geräusche wurden vom Sprechgesang des Postboten überdeckt. Doug, der unbewaffnet war, hielt sich nahe bei Mike. Als der Polizist sah, dass alle auf ihren Plätzen waren, trat er vor. Die anderen folgten ihm.
Der Postbote sah sie, ließ sich in seinem Ritual aber nicht stören. Ohne Pause tanzte er weiter und streckte die Arme zur Mondsichel aus.
»Sie sind verhaftet!«, rief Mike.
Der Postbote lachte schrill und veränderte die Worte seines Sprechgesangs: »Weder Männer noch Frauen noch Kugelhagel werden diesen Postboten von seiner vorbestimmten Runde abhalten.«
Mike bewegte sich langsam vorwärts, Doug an seiner Seite. Der Halbkreis begann sich zu schließen.
Der Postbote tanzte von ihnen weg über den felsigen Boden auf den Rand des Abhangs zu.
»Bleiben Sie stehen«, befahl Mike.
Der Postbote lachte, sprang in die Luft, tanzte, sang. »Weder die Dunkelheit der Nacht ...«
Sie folgten ihm, während er sich immer mehr dem Rand des Abhangs näherte, und schlossen dann den Halbkreis, zogen die Schlinge zu, bis sie fast direkt vor ihm standen.
Erst jetzt hielt der Postbote in seinem Tanz inne. Er schwitzte nicht, atmete nicht einmal schneller. Er grinste Doug an. »Billy ist ein hübscher Junge«, sagte er. »So ein hübscher Junge.«
»Die Hände über den Kopf!«, befahl Mike.