»Wozu, Officer?«
»Die Hände hoch!«
»Sie haben keine Beweise.«
»Wir haben alle Beweise, die wir brauchen.«
Der Postbote lächelte, als er den Blick über die Gesichter der Männer streifen ließ. »Wichser«, sagte er ruhig.
»Die Hände über den Kopf«, wiederholte Mike.
»Wichser«, sagte der Postbote leise. Er ging rückwärts bis an den Rand des Abhangs.
Mike feuerte einen Warnschuss in die Luft. Der Postbote blieb stehen. »Wenn Sie noch eine einzige Bewegung machen, erschieße ich Sie«, rief Mike und richtete die Waffe auf ihn. »Haben Sie verstanden?«
Doug wusste nicht, ob Mike es ernst meinte, aber der Postbote glaubte ihm offenbar, denn er verharrte.
»Tim«, sagte Mike. »Leg ihm Handschellen an.«
Tim nickte und trat vor, die offenen Handschellen in der Hand. »Mister Smith, Sie sind verhaftet wegen ...«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Eine Hand des Postboten zuckte vor, und ehe Hibbard reagieren konnte, griff er sich die Handschellen und riss sie dem Polizisten weg. Tim schnellte vor und langte nach den Handschellen, doch der Postbote machte einen raschen Ausfallschritt und schleuderte Tim mit einem wuchtigen Stoß über die Kante des Abhangs. Ein schriller Schrei des Entsetzens war zu hören, der abrupt abbrach. Doug hörte ein dumpfes Geräusch, als der Körper auf dem Fels aufschlug.
Der Postbote grinste. »Der Nächste?«
Alles war binnen weniger Sekunden geschehen, doch Lieutenant Jack Shipley war schon in Aktion, bewegte sich vorwärts und richtete dabei die Pistole auf Smith. Dessen weiße Hand schnellte vor und griff nach der Waffe.
Jack drückte ab.
Die Kugel traf den Postboten in die Brust. Blut spritzte. Smith taumelte von der Wucht des Schusses rückwärts, doch es gelang ihm noch, die Waffe zu packen. Mit einem schnellen Ruck zog er den Polizisten zu sich. Jack war zu überrascht, um noch reagieren zu können. Der Postbote hielt ihn fest umklammert und fiel über die Kante. Zusammen stürzten sie auf die Felsen darunter. In der Sekunde, ehe Smith abstürzte, glaubte Doug ein Lächeln auf den blutigen Lippen des Mannes zu sehen.
Die anderen liefen zum Abgrund und blickten in die Tiefe, doch unten war alles dunkel. Mehrere Polizisten schalteten ihre Taschenlampen ein.
Die sich überschneidenden Strahlen fanden rasch Jacks zerschmetterten Körper.
Die Strahlen schwenkten kreuz und quer und suchten den felsigen Grund ab, beleuchteten Zentimeter für Zentimeter den Boden um die Stelle herum, wohin Jack gefallen war. Tim lag in der Nähe; seine Arme waren in unmöglichen Winkeln verdreht, sein Schädel auf einem Felsblock aufgeschlagen. Die Lichter verharrten, bewegten sich weiter, rissen Sträucher und Bäume aus der Dunkelheit. Doug sagte nichts, und auch die anderen Männer schwiegen, doch sie alle dachten dasselbe, und sie alle hatten fürchterliche Angst.
Die Lichtstrahlen suchten weiter das Gelände unterhalb des Hügelkamms ab.
Aber da lagen nur zwei Leichen auf dem Boden.
Der Postbote war verschwunden.
46.
Doug saß auf der Veranda und blickte auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht. Er hatte seit Stunden hier gesessen, seitdem er Trish im Krankenhaus zurückgelassen hatte.
Vom Hügel war er zuvor mit Jeff Brickman zurückgekehrt, dem Officer, der sich gemeldet hatte, um zum Revier zurückzufahren und sich um die Kommunikation zu kümmern, während die anderen Männer überlegten, wie sie die Leichen bergen sollten. Jeff Brickman wollte versuchen, zum Büro des County Sheriffs durchzukommen oder zur State Police. Doug hoffte sehr, dass er Erfolg hatte. Im Augenblick befolgten die Polizisten zwar noch Mikes Anweisungen, doch Doug hatte gesehen, wie allmählich alles zerfiel. Als er gegangen war, waren die Männer beinahe schon so weit, Strohhalme zu ziehen, um die Zuständigkeiten zu verteilen. Es machte Doug Angst, wie leicht eine solch gut ausgebildete und gut organisierte Gruppe auseinanderfallen konnte, und er war froh, als er wieder in seinem Bronco saß und nach Hause fuhr.
Nun fragte er sich, was die Polizei wohl gerade machte.
Er überlegte, ob er anrufen sollte, entschied sich aber dagegen.
Er trank den letzten Schluck von seinem fünften Bier und starrte hinauf zu den Sternen. Weit oben zog ein hellerer Himmelskörper in einer geraden Linie von West nach Ost. Ein Satellit. Weiter unten sah er die blinkenden Lichter eines Flugzeugs, ohne es zu hören.
Außerhalb von Willis drehte die Welt sich weiter.
Doug hatte Trish jede halbe Stunde angerufen, und sie hatte ihm jedes Mal versichert, dass alles unverändert sei. Billy schlief immer noch. Der letzte Anruf hatte Trish offensichtlich geweckt, und gereizt hatte sie Doug gebeten, sich nicht mehr zu melden; sie würde ihm Bescheid geben, wenn sich irgendetwas Neues ergab.
Nicht mehr anrufen.
Doug fragte sich, ob sie ihn verantwortlich machte für das, was geschehen war.
Müde lehnte er sich in den weich gepolsterten Stuhl zurück, bereit, sich in den Schlaf gleiten zu lassen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass die Atmosphäre um ihn sich verändert hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Alarmiert und hellwach richtete er sich auf. Er bemerkte, dass die Grillen verstummt waren. Nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen.
Doch, da war ein Geräusch.
Von der Straße, aus Richtung der Nelsons, hörte er das leise Brummen eines Motors, der näher kam.
Doug erstarrte, unfähig, irgendetwas zu tun.
Das Geräusch kam näher und wurde in der Stille immer lauter. Doug wäre am liebsten weggelaufen und hätte sich versteckt. Er wollte ins Haus, die Tür abschließen und die Vorhänge zuziehen, doch er blieb, wo er war.
Und da war er, am Ende der Auffahrt, der rote Wagen des Postboten, der vor dem Briefkasten zum Stehen kam.
Aber Smith war tot! Doug hatte gesehen, wie der Mann erschossen worden war, hatte gesehen, wie er über die Kante des Abhangs gestürzt war. Er war tot.
Doug starrte auf den roten Wagen. Die Scheibe auf der Fahrerseite senkte sich ein Stück, und eine weiße Hand erschien aus dem dunklen Innern, legte einen Brief in den Kasten und winkte dann höhnisch zum Abschied, ehe der Wagen davonfuhr.
Es dauerte einige Augenblicke, bevor die Grillen wieder zu zirpen begannen.
Dougs Herzschlag wurde langsamer. Er blieb auf der Veranda, ohne sich zu rühren. Der Postbote konnte nicht getötet werden. Er würde nicht sterben. Sie konnten nichts tun. Doug betete zu Gott, mit dem er seit Jahrzehnten nicht mehr gesprochen hatte, bekam aber keine Antwort.
Regungslos saß er da.
Er war immer noch wach, als fünf Stunden später im Osten der Morgen dämmerte.
47.
Doug rief im Krankenhaus an, ehe er sich auf den Weg machte. Billy schlief immer noch. Gut. Das würde ihm Zeit verschaffen, rechtzeitig da zu sein. Er wollte an der Seite seines Sohnes sein, wenn dieser aufwachte.
Trish saß mit müden Augen auf ihrem Bett, das neben Billys stand. Sie war angezogen. Ihre Kleidung war verknittert, weil sie in den Sachen geschlafen hatte, und ihr Haar war zerzaust. Doug umarmte sie.
»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie.
»Du siehst auch nicht viel besser aus.«
Beide schauten auf Billy. Im Schlaf sah sein Gesicht ausgeruht und völlig normal aus, als wäre nichts mit ihm geschehen und als würde er derselbe sein wie immer, sobald er aufwachte. Aber er würde nicht derselbe sein. Er würde nie wieder derselbe sein.
»Er ist wieder da«, sagte Doug. »Der Postbote. Ich habe ihn letzte Nacht gesehen. Er hat unsere Post gebracht.« Er hatte Trish bereits erzählt, dass der Mann erschossen worden war, hatte ihr aber verschwiegen, dass die Leiche verschwunden war; wider besseres Wissen hatte Doug gehofft, dass er und die Polizisten Smith' Körper in der Nacht einfach nicht gesehen hatten, dass er in irgendeinem Schatten lag oder irgendwohin gekrochen war, um zu sterben.