Giselle Brennan.
Es verschlug ihm den Atem. Giselle war in braunes Packpapier gewickelt wie eine Mumie. Ein Arm hatte sich aus der Umhüllung befreit und war in unnatürlichem Winkel verdreht, mit Gummibändern an der Körperseite fixiert und mit Lagen von gefalteten, orangefarbenen und blauen Express-Umschlägen umwickelt. An vielen Stellen war Blut durch die Verpackung gesickert, war schwarz geworden und in Streifen eingetrocknet. Giselles Gesicht, Hals, Kinn und Wangen waren kreuz und quer von dünnen Schnitten übersät; gerade, sich überschneidende Linien, die ein Feld aus Quadraten, Rechtecken und Parallelogrammen bildeten. Schnitte durchzogen auch ihre Lippen, sodass es aussah, als ob man ihren Mund zugenäht hätte.
»Giselle«, sagte Doug und ging einen Schritt auf sie zu.
Sie stöhnte.
Erst jetzt sah Doug auf ihrer weißen Stirn mehrere parallele Wellenlinien aus schwarzer Tinte, die von einem Kreis ausgingen, in dem etwas geschrieben stand.
Ein Poststempel.
Unter ihrem Haaransatz sah er eine gleichmäßig aufgeklebte Reihe von Briefmarken.
Doug drehte sich zum Postboten um. »Was hast du mit ihr gemacht, verdammt?«
Smith lachte. Das rasselnde Geräusch klang wie Fingernägel, die über eine Schultafel kratzten. »Postunfall«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein leises Wispern, das Doug kaum noch erkannte.
»Du Bastard.« Doug atmete durch. Plötzlich begriff er, was der Postbote getan hatte. Er hatte ein Paket aus Giselle gemacht. Ein verdammtes Paket, fertig zum Versand.
Die Kreatur hustete. »Der Postal Service kann nicht für Verletzungen zur Verantwortung gezogen werden, die durch die Postzustellung entstehen. Wäre Giselle als Ergebnis ihrer Arbeit verletzt worden, würde sie unter das Bundesarbeitsgesetz fallen. Aber sie ist Teilzeit-Angestellte, die bei einem Unfall verletzt wurde, der nicht im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stand. Ich habe ihr geholfen, so gut ich konnte. Ich habe ihre Wunden bandagiert. Mehr kann ich nicht tun. Jetzt liegt es an Ihnen.« In seinen Insektenaugen lag Hunger. »Wenn Sie sie nicht sofort ins Krankenhaus bringen, stirbt sie. Vielleicht ist es jetzt schon zu spät.«
Diesmal war das Stöhnen der jungen Frau ein Wort. »Hilfe.«
Doug stand regungslos da; er wusste nicht, was er tun sollte. Die Sekunden dehnten sich wie Stunden. Im Raum war es gespenstisch still, ebenso die Schalterhalle und die Stadt draußen. Kein Geräusch störte diese Stille. Es war, als wartete die ganze Welt auf seine Entscheidung.
»Helfen Sie mir«, flehte Giselle. Ihre Stimme war schwächer als ihr Stöhnen.
»Die Kleine wird sterben, wenn Sie nichts für sie tun«, flüsterte der Postbote.
Doug brauchte Zeit, um die Situation zu analysieren und das Problem zu lösen.
Aber er hatte keine Zeit.
»Mister Albin ...«, flüsterte der Postbote.
»Hilfe«, flehte Giselle.
Doug schloss die Augen. Alles in ihm, sein Herz, seine Seele, sagten ihm unaufhörlich, dass er sich in Gang setzen und Giselle ins Krankenhaus bringen musste. Doch eine eisige Entschlossenheit hielt ihn vom Handeln ab. Wenn er Giselle half, wäre alles verloren. Der Postbote war offensichtlich dem Tod nahe. Dies war lediglich ein letztes Aufbäumen, sein allerletzter Versuch, das Blatt zu wenden. Wenn Doug diese »Post« annahm, verlieh sie dem Postboten vielleicht genug Energie, um angreifen zu können. Wenn die Energie der Post proportional zu ihrem Gewicht oder Wert war, entsprach Giselle Hunderten von Schecks und Briefen.
»Helfen Sie mir ...«
Doug konnte sie nicht sterben lassen, konnte ihren Tod nicht verantworten. Das würde bedeuten, alle Anstrengungen zunichte zu machen, die er und die anderen in der Stadt unternommen hatten. Es konnte sogar bedeuten, dass der Postbote seine volle Macht zurückbekam und wieder zu töten begann. Doch Doug konnte nicht tatenlos dastehen und zusehen, wie Giselle starb. Er musste sie ins Krankenhaus bringen. Indem er sich weigerte, sie zum Tode zu verurteilen, verurteilte er vielleicht andere zum Tod. Aber dieses Risiko musste er eingehen.
Er trat einen Schritt vor. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der skelettartige Arm des Postboten ein Muster in die Luft malte. Doug blieb stehen und drehte sich um.
Eine Träne lief über Giselles Wange, wurde vom Papier abgelenkt und in immer kleinere Rinnsale geteilt. »Mister Albin ...«
Die Lippen des Postboten bewegten sich stumm. Seine Augen waren geschlossen.
»Lassen Sie mich nicht sterben«, flehte Giselle.
Ihre Stimme klang anders als sonst, bemerkte Doug, rhythmischer, weniger natürlich, und in ihren Worten lag etwas, das gestelzt und förmlich erschien und nicht echt klang. Doug blickte von Giselle zum Postboten und wieder zurück.
Der Kopf des Postboten drehte sich nach rechts.
Giselles Kopf drehte sich nach rechts.
Doug stand regungslos da und wusste nicht, was er tun sollte.
»Sie sind der Einzige, der wo mich retten kann.«
Doug versteifte sich. »Der Einzige, der wo mich retten kann.«
Der wo.
Giselle hätte »der« gesagt.
Sie war bereits tot. Sie war bereits tot gewesen, ehe er durch die Tür gekommen war. Doug blickte der jungen Frau aufmerksam ins Gesicht und erkannte den leicht glasigen Schimmer ihrer Augen, die leicht durchscheinende Dickflüssigkeit der Träne, die über ihre zerschnittene Wange gelaufen war. Giselle war irgendwann gestorben, vielleicht heute, vielleicht gestern, vielleicht am Tag davor, und der Postbote hatte sie hierbehalten, um sie als Köder zu benutzen. Er wusste, dass Doug schließlich kommen würde, und er wusste, dass Doug nicht fähig sein würde, die junge Frau sterben zu lassen. Der Postbote hatte sie benutzt, indem er den toten Körper mit aller Kraft, die ihm verblieben war, bewegt und zum Sprechen gebracht hatte.
»Netter Versuch«, sagte Doug.
Der Postbote öffnete die Augen und starrte ihn wütend an. Diesmal sah Doug nicht weg. Sein Blick blieb hart, ruhig, unerschütterlich. Der Blick des Postboten war ebenso standhaft, doch seine Kraft war nicht von langer Dauer und wurde nur mit größter Mühe aufgebracht. Dahinter lauerte die Niederlage, und hinter der Aggressivität schlummerten die Angst und die Erkenntnis, dass er sich verrechnet hatte.
Er hatte verloren, und er wusste es. Und er wusste auch, dass Doug es wusste.
»Du bist erledigt«, sagte Doug.
Der Postbote zischte. Hinter ihnen sank Giselles Leiche auf den Boden. Das Papier knisterte laut, als überall im Raum Briefe, Umschläge, Rechnungen vom Boden emporwirbelten, als wären sie von einem Staubteufel in der Wüste erfasst worden. Beinahe rechnete Doug damit, dass die Post ihn attackierte, dass sie ihm ins Gesicht fliegen würde, doch die Briefe kreisten harmlos in der Luft und stiegen in die Höhe.
Der Postbote hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um ein paar Umschläge zu kontrollieren.
»Es ist vorbei«, sagte Doug.
Die Tür flog auf, und Mike, Tegarden und die anderen stürmten herein. »Wir konnten nicht ...«, setzte Mike an. Er betrachtete die wirbelnden Umschläge. Sah Giselles Leiche. »Himmel!«
Sofort legte Tegarden seinen Revolver an und feuerte auf den Postboten. Die Kugel flog durch ihn hindurch. Der Postbote lachte - ein rasselndes Kichern, das Furcht erregend sein sollte, es aber nicht mehr war.
Plötzlich wurde Doug bewusst, dass er selbst ebenfalls eine Waffe in der Hand hielt.
Der Postbote fischte einen Umschlag aus der Luft. Auf seinen knochigen Füßen schlurfte er vorwärts, den Umschlag in der ausgestreckten Hand. Er lächelte Tegarden an. »Für Sie«, krächzte er.