Oberstleutnant Evon Vorhalas blickte reichlich unbehaglich drein und sagte: »Ja, ich habe … etwas gelernt, was ich nie vergessen werde, Mylady.«
Vorkosigan fuhr mit der Vorstellung fort: »Oberstleutnant Evon Vorhalas, Lord Carl, Leutnant Koudelka.«
Koudelka, der beladen war mit Schreibfolien, Disketten, dem Kommandostab des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, den man gerade Vorkosigan als designiertem Regenten übergeben hatte, und seinem eigenen Stock, war unsicher, ob er die Hände schütteln oder salutieren sollte, und so brachte er keines von beiden fertig, statt dessen fiel ihm alles auf den Boden. Das Bemühen der anderen, beim Aufheben zu helfen, hatte ein allgemeines Durcheinander zur Folge, und Koudelka lief rot an, während er sich nach seinen Sachen bückte. Droushnakovi und er griffen zur gleichen Zeit nach seinem Stock.
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht, Fräulein«, fauchte Koudelka sie leise an, und sie prallte zurück und stellte sich steif hinter Cordelia.
Oberstleutnant Vorhalas gab ihm einige Disketten zurück. »Verzeihen Sie«, sagte Koudelka, »danke.«
»Nichts zu danken, Leutnant. Ich bin selbst einmal beinahe von Disruptor-Feuer getroffen worden. Das hat mir einen höllischen Schreck eingejagt. Sie sind ein Beispiel für uns alle.«
»Es … hat nicht weh getan.«
Cordelia, die aus persönlicher Erfahrung wußte, daß dies eine Lüge war, blieb ruhig, denn sie war zufrieden. Die Gruppe trennte sich in verschiedene Richtungen. Cordelia machte bei Evon Vorhalas halt.
»Es freut mich, daß ich Sie kennengelernt habe, Herr Oberstleutnant. Ich prophezeie Ihnen, daß Sie es in Ihrer Karriere weit bringen werden — und nicht in Richtung der Insel Kyril.«
Vorhalas lächelte angespannt. »Ich glaube, auch Sie werden es weit bringen, Mylady.« Sie verabschiedeten sich mit einem vorsichtigen und höflichen Nicken, und Cordelia wandte sich um, nahm Vorkosigans Arm und folgte ihm zu seiner nächsten Aufgabe, mit Koudelka und Droushnakovi im Schlepptau.
Der Kaiser von Barrayar glitt eine Woche später in sein endgültiges Koma, siechte aber noch eine weitere Woche dahin. Eines Morgens wurden Aral und Cordelia in aller Frühe von einem besonderen Boten aus der Kaiserlichen Residenz aus dem Bett geholt mit den einfachen Worten: »Der Doktor denkt, es ist so weit, Exzellenz.« Sie kleideten sich hastig an und begleiteten den Boten in den schönen Raum, den Ezar für die letzten Monate seines Lebens ausgewählt hatte. Die wertvollen Antiquitäten waren von medizinischen Geräten von anderen Planeten in den Hintergrund gedrängt worden.
Der Raum war voller Menschen: den Ärzten des alten Mannes, Vortala, Graf Piotr, die Prinzessin und Prinz Gregor, verschiedenen Ministern und einigen Männern vom Generalstab. Sie hielten eine stille, stehende Totenwache, fast eine Stunde lang, und dann kam über die reglose, verfallene Gestalt auf dem Bett fast unmerkbar eine tiefere Stille. Cordelia dachte, welch schauerliche Szene dies für den Jungen sein mußte, aber seine Anwesenheit schien aus zeremoniellen Gründen notwendig. Sehr leise wandten sie sich um, Vorkosigan zuerst, knieten vor Gregor nieder, legten ihre Hände in die seinen und erneuerten ihre Treueeide.
Auch Cordelia wurde von Vorkosigan angeleitet, vor dem Jungen niederzuknien. Der Prinz — jetzt Kaiser — hatte das Haar seiner Mutter, aber haselnußbraune Augen wie Ezar und Serg, und Cordelia ertappte sich bei der Überlegung, wieviel von seinem Vater oder seinem Großvater in ihm verborgen war, dessen Ausdruck nur auf die Macht wartete, die mit dem entsprechenden Alter kommen würde. Trägst du einen Fluch in deinen Chromosomen, Kind? ging es ihr durch den Kopf, als ihre Hände in die seinen gelegt wurden. Ob Fluch oder Segen, dennoch leistete sie ihm ihren Eid. Die Worte schienen ihre letzte Bindung an Kolonie Beta zu durchschneiden, sie löste sich mit einem Ping!, das nur für Cordelia hörbar war. Jetzt bin ich eine Barrayaranerin. Es war eine lange, sonderbare Reise gewesen, die begonnen hatte mit dem Anblick eines Paars Stiefel im Schlamm und die jetzt endete in diesen unbefleckten Kinderhänden.
Weißt du, Junge, daß ich half, deinen Vater zu töten? Wirst du das je erfahren?
Sie fragte sich, ob es Rücksichtnahme oder Versehen gewesen war, daß man nie von ihr verlangt hatte, Ezar Vorbarra den Eid zu leisten.
Von allen Anwesenden weinte nur Oberst Negri. Cordelia nahm dies nur wahr, weil sie direkt neben ihm stand, im dunkelsten Winkel des Raums, und sah, wie er zweimal sein Gesicht mit dem Rücken seiner Hand abwischte. Für einen Augenblick war sein Gesicht von Rot überzogen und tiefer gefurcht, als er vortrat, um seinen Eid zu leisten, zeigten seine Züge wieder ihre normale ausdruckslose Härte.
Die fünf Tage der Trauerzeremonien, die dann folgten, waren aufreibend für Cordelia, aber — zu dieser Einsicht kam sie — nicht so aufreibend, wie die Feierlichkeiten für Kronprinz Serg, die zwei Wochen lang gedauert hatten, obwohl ein Leichnam als Mittelpunkt gefehlt hatte. Für die öffentliche Meinung war Prinz Serg den Tod eines heldenhaften Soldaten gestorben. Nach Cordelias Zählung kannten nur fünf Menschen die ganze Wahrheit über jenes raffinierte Attentat. Nein, nur vier, nun, da Ezar nicht mehr lebte. Vielleicht war das Grab der beste Verwahrungsort für Ezars Geheimnisse. Nun, die Qual des alten Mannes war vorüber, seine Zeit vorbei, seine Ära am Vergehen.
Es gab keine eigentliche Krönung für den Knabenkaiser, statt dessen einige Tage, die überraschend geschäftsmäßig, wenn auch in eleganter Kleidung, wieder in den Kammern der Räte verbracht wurden, mit der Eidesleistung von Ministern, Grafen, einer Schar ihrer Angehörigen und allen anderen, die ihren Schwur nicht schon in Ezars Sterbezimmer getan hatten. Auch Vorkosigan wurden Eide geleistet, und je mehr es waren, um so schwerer schien die Last auf seinen Schultern zu werden, als ob jeder einzelne von ihnen ein meßbares Gewicht hätte.
Der Junge hielt sich gut, unter engem Beistand seiner Mutter. Kareen trug dafür Sorge, daß Gregors stundenweise Ruhepausen von den geschäftigen, ungeduldigen Männern respektiert wurden, die sich in der Hauptstadt versammelt hatten, um ihrer Verpflichtung nachzukommen. Die Merkwürdigkeit des barrayaranischen Regierungssystems mit all seinen ungeschriebenen Bräuchen drängte sich Cordelia nicht beim ersten Blick auf, sondern nach und nach. Und doch schien es irgendwie für die Leute hier zu funktionieren. Sie machten, daß es funktionierte. Durch ›so-tun-als-ob‹ eine Regierung hervorbringen. Vielleicht sind alle Regierungsformen im Kern solche Fiktionen durch Konsens.
Nachdem die Flut der Zeremonien verebbt war, begann Cordelia endlich, ihre häusliche Routine im Palais Vorkosigan einzurichten. Allerdings gab es da nicht viel zu tun. An den meisten Tagen verließ Vorkosigan bei Morgengrauen das Haus, mit Koudelka im Schlepptau, und kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück, nahm einen kalten Abendimbiß zu sich und schloß sich bis zur Bettzeit in der Bibliothek ein oder empfing dort irgendwelche Leute. Cordelia sagte sich, seine lange Arbeitszeit sei der Tribut an den Beginn seiner neuen Tätigkeit. Er würde sich eingewöhnen und dann effizienter werden, wenn nicht mehr alles zum erstenmal getan würde. Sie erinnerte sich an ihr erstes Raumschiffkommando im Betanischen Astronomischen Erkundungsdienst — das war gar noch nicht so lange her — und an ihre ersten Monate von nervöser Überbereitschaft. Später waren die mühevoll erlernten Aufgaben erst automatisch, dann nahezu unbewußt geworden, und ihr Privatleben war wieder aufgetaucht. Genauso würde es mit Aral geschehen. Sie wartete geduldig und lächelte, wenn sie ihn sah.
Außerdem hatte sie ja eine Aufgabe: die Schwangerschaft. Das war eine Aufgabe von nicht geringem Status, der Verhätschelung nach zu urteilen, die ihr von allen zuteil wurde, angefangen von Graf Piotr bis zur Küchenmagd, die ihr zwischendurch nahrhafte kleine Happen brachte. Soviel Zuspruch hatte sie nicht einmal dann bekommen, wenn sie von einer einjährigen Erkundungsmission ohne einen einzigen Unfall zurückkam.