»Nein, bitte nicht. Aber wie steht’s heute? Wenn das Motiv eine zu große Auswahl an Verdächtigen zuläßt, was ist dann mit Methode und Gelegenheit?«
»In dieser Hinsicht haben wir noch einiges zu tun, obwohl zu viel davon negativ ausgeht. Wie ich schon festgestellt habe, war es ein ganz geschickt ausgeführter Versuch. Wer auch immer ihn geplant hat, mußte Zugang zu einer bestimmten Art von Wissen haben. Wir werden zuerst diese Aspekte untersuchen.«
Cordelia kam zu dem Schluß, daß die Anonymität des versuchten Attentats es war, was sie am meisten beunruhigte. Wenn der Mörder jeder Beliebige sein konnte, dann wurde das Verlangen übermächtig, jeden zu verdächtigen. Verfolgungswahn war hier anscheinend eine ansteckende Krankheit, die Barrayaraner infizierten sich damit gegenseitig. Nun ja, die vereinten Mannschaften von Negri und Illyan mußten ja bald einige konkrete Fakten ans Tageslicht bringen. Sie packte alle ihre Ängste in ein kleines, winziges Verlies in ihrer Magengrube und schloß sie dort ein.
Neben ihrem Kind.
In dieser Nacht hielt Vorkosigan sie ganz eng in die Wölbung seines kräftigen Körpers gekuschelt, obwohl er ihr keine sexuellen Avancen machte. Er hielt sie nur. Er blieb stundenlang wach, trotz der Schmerztabletten, die seine Augen glasig machten. Sie schlief erst ein, als er schon schlief. Sein Schnarchen lullte sie ein. Es gab nicht viel zu sagen.
Sie haben danebengetroffen: wir machen weiter.
Bis zum nächsten Versuch.
KAPITEL 5
Der Geburtstag des Kaisers war ein traditioneller barrayaranischer Feiertag, er wurde gefeiert mit Festessen, Tanz, Trinkgelagen, Veteranenparaden und einer unglaublichen Menge von offensichtlich völlig unkontrolliertem Feuerwerk. Es wäre ein großartiger Tag für einen Überraschungsangriff auf die Hauptstadt, fand Cordelia, ein Artilleriefeuer könnte schon längst im Gange sein, bevor es irgend jemand in dem allgemeinen Lärm merkte. Der Tumult begann schon bei Morgengrauen.
Die diensthabenden Wachen, die sowieso schon von Natur aus bei jedem plötzlichen Lärm aufschreckten, waren unruhig und unglücklich, außer ein paar Jüngeren, die versuchten, den Tag durch Abbrennen von ein paar Knallfröschen innerhalb der Mauern zu feiern. Sie wurden vom Wachkommandanten zur Seite genommen und kamen viel später wieder heraus, bleich und kleinlaut, und stahlen sich leise davon. Cordelia sah sie später unter dem Kommando einer bissigen Hausangestellten Müll wegbringen, während ein Küchenmädchen und die zweite Köchin fröhlich aus dem Haus eilten, um einen überraschenden freien Tag zu genießen.
Der Geburtstag des Kaisers war ein beweglicher Feiertag. Die Begeisterung der Barrayaraner für diesen Feiertag wurde nicht getrübt durch die Tatsache, daß sie ihn, wegen Ezars Tod und Gregors Thronbesteigung, in diesem Jahr schon zum zweiten Mal feierten.
Cordelia schlug eine Einladung zu einer großen Truppenparade aus, die Arals ganzen Vormittag kostete, um statt dessen für das Ereignis des Abends frisch zu bleiben — für das Ereignis des Jahres, wie man ihr zu verstehen gab — persönliche Anwesenheit beim Geburtstagsdinner des Kaisers in der Kaiserlichen Residenz. Sie freute sich, Kareen und Gregor wiederzusehen, wenn auch nur kurz. Zumindest war sie sicher, daß ihre Kleidung in Ordnung war. Lady Vorpatril, die über einen ausgezeichneten Geschmack sowie Erfahrung mit Umstandskleidung im barrayaranischen Stil verfügte, hatte Mitleid mit Cordelia in deren kultureller Verwirrung gehabt und sich als fachkundige einheimische Beraterin angeboten.
Als Ergebnis trug Cordelia ein tadellos geschnittenes waldgrünes Seidenkleid, das mit einem Übergewand aus dickem, elfenbeinfarbenem Samt von der Schulter bis zum Boden wirbelte. Echte Blumen in passenden Farben waren von einer echten menschlichen Friseuse die auch Alys zu ihr geschickt hatte, in ihrem kupferfarbenen Haar arrangiert. Wie bei ihren öffentlichen Veranstaltungen machten die Barrayaraner aus ihrer Kleidung eine Art Volkskunst, die so kompliziert war wie eine betanische Körperbemalung. Über Arals Meinung war sich Cordelia nicht sicher — sein Gesicht hellte sich immer auf, wenn er sie sah —, aber nach den entzückten ›Oohs‹ von Graf Piotrs weiblichem Personal zu urteilen, hatte Cordelias Schneiderteam sich selbst übertroffen.
Als sie in der vorderen Halle am Fuß der Wendeltreppe wartete, glättete sie verstohlen den Streifen grüner Seide über ihrem Unterleib. Etwas mehr als drei Monate erhöhter Stoffwechselaktivität, und alles, was sie vorweisen konnte, war diese Schwellung von der Größe einer Grapefruit — seit der Sommermitte hatte sich so viel ereignet, daß es ihr schien, ihre Schwangerschaft müßte schneller vorankommen, um mit allem Schritt zu halten. Sie summte ein mentales Mantra in Richtung auf ihren Unterleib:
Wachse, wachse, wachse … Wenigstens begann sie jetzt schon tatsächlich schwanger auszusehen, anstatt sich nur erschöpft zu fühlen. Aral teilte ihre nächtliche Faszination über ihren Fortschritt, indem er sanft mit gespreizten Fingern nach zarten Bewegungen unter ihrer Haut fühlte — bis jetzt noch ohne Erfolg.
Jetzt erschien Aral mit Leutnant Koudelka. Sie hatten sich beide gründlich gebadet, rasiert, die Haare geschnitten und gekämmt, und jetzt funkelten sie in ihren formellen, rot-blauen kaiserlichen Paradeuniformen. Graf Piotr schloß sich ihnen an, er trug die Uniform, in der Cordelia ihn bei den Sitzungen der Vereinigten Räte gesehen hatte: braun und silbern, eine prächtigere Version der Livree seiner Garde. Piotrs zwanzig Gefolgsmänner hatten an diesem Abend alle eine Art offizieller Funktion und waren schon die ganze Woche über von ihrem hektischen Kommandanten zu peinlich genauen Vorbereitungen angetrieben worden. Droushnakovi, die Cordelia begleitete, trug ein einfacheres Kleid in Cordelias Farben, dessen sorgfältiger Schnitt rasche Bewegungen erleichterte und Waffen sowie Kom-Links verbarg.
Nachdem jeder jeden gebührend bewundert hatte, begaben sie sich durch die Vordertüren zu den wartenden Bodenwagen. Aral half Cordelia persönlich in ihr Fahrzeug, dann trat er zurück: »Ich treffe dich dann dort, Liebste.«
»Was?« Ihr Kopf fuhr herum. »Oh. Der zweite Wagen … ist dann nicht nur wegen der Größe der Gruppe dabei?«
Arals Mund verzog sich leicht: »Nein. Es scheint mir … klüger, daß wir von jetzt an in getrennten Fahrzeugen fahren.«
»Ja«, sagte sie schwach, »wirklich klüger.«
Er nickte und wendete sich dann ab. Zum Teufel mit diesem Land! Wieder wurde ein Stück aus ihrem Leben, aus ihrem Herzen genommen. Sie hatten nur noch so wenig Zeit miteinander, daß selbst ein kleiner Verlust schmerzte.
Graf Piotr sollte offensichtlich Aral vertreten, zumindest heute abend, er rutschte auf den Sitz neben ihr. Droushnakovi setzte sich ihnen gegenüber, und das Verdeck wurde geschlossen. Der Wagen bog ruhig in die Straße ein. Cordelia blickte über ihre Schulter und versuchte nach Arals Wagen zu schauen, aber er folgte zu weit hinten, als daß sie ihn hätte sehen können. Sie richtete sich auf und seufzte.
Die Sonne sank gelb in eine graue Wolkenbank, Lichter erglühten in dem kühlen, dunstigen Herbstabend und gaben der Stadt eine düstere, melancholische Atmosphäre. Vielleicht war ein lärmendes Straßenfest — sie fuhren an einigen vorbei — keine so schlechte Idee. Die Feiernden erinnerten Cordelia an primitive Menschen von der Erde, die auf Töpfen trommelten und Schüsse abfeuerten, um den Drachen zu verjagen, der den sich verfinsternden Mond verschlingen wollte. Diese seltsame, herbstliche Traurigkeit konnte eine unvorsichtige Seele verzehren. Gregors Geburtstag kam zur rechten Zeit.