«Da sind Sie ja«, sagte Borokin wenig höflich, als die schöne Dame an seinen Tisch trat und ihre weißen Handschuhe auf einen Stuhl warf. Ein wenig hatte er sich erhoben, aber nicht zu voller Höhe, und er saß schon wieder, als sich die Dame ebenfalls setzte und ihre langen blonden Haare ordnete.»Nachts sollten Sie lieber schlafen.«
«Lassen Sie bitte Ihre schweinischen Reden, Borokin«, sagte die Dame. Eine sanftklingende Stimme hatte sie, obwohl die Worte nicht gerade Glockentöne waren.»Was wollen Sie?«
«Zunächst sollte man Sie erinnern, daß Ihre Mutter noch immer in Küstrin in Untersuchungshaft sitzt. Die Anklage des Staatsanwaltes ist noch nicht erfolgt, wir halten sie noch zurück.«
«Ich weiß. «Irene Brandes sah hinaus auf den flimmernden Rhein. Ein Kellner brachte eine Karaffe mit schwarzem Johannisbeersaft, den Borokin schon vorsorglich bestellt hatte.
Mutter, dachte sie. Wenn du wüßtest, was sie hier mit mir tun. Aber vielleicht halten sie ihr Wort und lassen dich frei. Nur darum, weil ich daran glaube, tue ich es. Sie haben mich in der Hand.
Das Leben der Irene Brandes war nicht aufregend gewesen. Als die Welle der Roten Armee, von Ostpreußen und Oberschlesien kommend, gegen Berlin rückte und auch Küstrin eroberte, war sie mit einem Treck noch in letzter Stunde den sowjetischen Panzerspitzen entkommen. Vier Wochen lang zogen sie durch Deutschland bis nach Husum, ein klappriger Leiterkarren und zwei magere Pferde, und in dem Karren zwei Großmütter und ein vor Gram irr gewordener Großvater. Die Mutter saß auf dem Bock und lenkte die Pferde, der Vater war irgendwo an der Front, und man hörte nie wieder etwas von ihm; und sie, die kleine Irene, kaum vier Jahre alt, lag meistens zwischen den beiden Großmüttern im Stroh oder hockte neben der Mutter auf dem Kutschbock und betrachtete die sich auflösende Welt mit staunenden, weiten, nichts begreifenden Kinderaugen.
Nach zwanzig Jahren sah diese Welt nun anders aus. Satter als je zuvor, glänzender, lockender, brutaler, herzloser und kälter. Irene Brandes nahm nach der mittleren Reife eine Lehre in Flensburg an, wurde Sekretärin bei einer Lebensmittelgroßhandlung, erhielt, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, ein Angebot nach Bonn und übernahm den Posten einer Chefsekretärin in einer Kohle- und StahlExportgesellschaft.
In Bonn lernte sie Reiner Burckhardt kennen, einen jungen Leutnant der Bundeswehr. Sie verlobten sich, aber vier Wochen vor der Hochzeit fuhr ein betrunkener Autofahrer ihn um und verletzte Burckhardt tödlich. Es war ein mysteriöser Unfall, den Autofahrer entdeckte man nie. Aber Augenzeugen berichteten, daß der Wagen mit einer Nummer, die es gar nicht gab, plötzlich Zickzack gefahren sei, über den Gehsteig raste und den jungen Leutnant gegen die Hauswand quetschte. Dann war das Auto, diesmal ohne Anzeichen eines betrunkenen Fahrers, mit heulendem Motor in der Nacht davongefahren.
Ein paar Wochen später erhielt Irene in ihrer kleinen Appartementwohnung in Bad Godesberg Besuch. Ein Herr, der sich zunächst Albrechten nannte, überbrachte Grüße der Mutter aus Husum, und
Irene ließ ihn ahnungslos in das Wohnzimmer. Dort setzte sich Herr Albrechten in einen der kleinen Sessel, musterte Irene mit dem sachverständigen Blick eines Frauenkenners und nickte mehrmals.
«Sie haben die Begabung, die man ausbauen kann«, sagte er ruhig.»Bitte starren Sie mich nicht so an, Irene — es hat gar keinen Sinn, mir etwas vorzuspielen.«
«Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, hatte Irene gesagt.»Woher kennen Sie meine Mutter?«
Und Herr Albrechten hatte leise gelacht und geantwortet:»Ich habe Ihre Mutter nie gesehen. Aber ich kannte Reiner Burckhardt. Geben wir das Versteckspielen doch auf. Ich heiße Jurij Alexandrowitsch Borokin, und wir beide wissen nur zu genau, warum der betrunkene Autofahrer< Reiner getötet hat.«
Als Borokin eine Stunde später ging, hatte er Irenes Zukunft in den Händen. Sie erfuhr, daß Reiner Burckhardt einer der kleinen Kontaktmänner gewesen war, die der sowjetische Geheimdienst in die Bundeswehr eingeschleust hatte; ein winziges Auge Moskaus, das plötzlich beschlossen hatte, blind zu werden und sich weigerte, weitere Informationen zu liefern. Um allen Unannehmlichkeiten zu entgehen, ließ man das kleine Auge Moskaus vollends erblinden.
Verzweifelt hatte sich Irene dagegen gewehrt, das alles gewußt zu haben. Borokin lächelte über ihre Beteuerungen.
«Mein Täubchen«, sagte er freundlich, aber diese Güte war gefährlich wie das Zähneblecken eines Wolfes,»geben Sie sich keine Mühe. Keine deutsche Behörde würde Ihnen das glauben. Es werden Zeugen auftreten, die gegen Sie aussagen, man wird beeiden, daß Sie an den Treffs mit den Kontaktmännern teilgenommen haben. «Und dann verbeugte sich Borokin im Sitzen und sagte:»Es ist angenehm, mit einem so schönen Mädchen zusammenzuarbeiten.«
Das war vor zwei Jahren gewesen. Ein Jahr darauf — Irene hatte nie wieder etwas von Borokin gehört — erhielt ihre Mutter einen Brief aus Küstrin, daß der zurückgebliebene Onkel gestorben sei und ihr ein Haus und 8.000 qm Ackerland vererbt habe. Wenn sie selbst nach Küstrin komme, könne sie die Erbschaft antreten und dann, das nehme man an, verkaufen.
Frau Brandes fuhr nach Küstrin und wurde dort verhaftet mit der Begründung, im Krieg deutschen Werwölfen Unterschlupf gewährt zu haben (obgleich sie zu dieser Zeit schon auf dem Treck in den Westen war). Als sie in Untersuchungshaft saß, erschien Jurij Ale-xandrowitsch Borokin wieder in Irenes Wohnung und sagte:
«Nun ist es soweit, mein Täubchen. Sie können Ihre Mutter vor Strafe bewahren, wenn Sie ein kluges Mädchen sind und Ihre Schönheit in den Dienst der Völkerverständigung stellen.«
Und Irene Brandes sagte zu.
Seitdem hatte sie fünf kleinere Aufträge erledigt. Fotokopien von Staatsaufträgen, das Protokoll ihres Chefs über eine Besprechung in Tel Aviv. Nichtigkeiten, wie sie glaubte, aber für ihre Mutter ein neues Stück Weg in die Freiheit.
«Was denken Sie?«fragte Borokin jetzt, als sich Irene vom Anblick des Rheins und der Insel Nonnenwerth abwandte.
«Wann kommt meine Mutter frei?«fragte Irene Brandes hart.
«Nach Erledigung dieses neuen Auftrages. «Borokin schüttelte den Kopf, als ihn Irene kritisch ansah.»Ich habe die Vollmacht, Ihnen die Fotokopie der Freilassung Ihrer Mutter zu zeigen. Es fehlt nur noch die Unterschrift. Sie wird daruntergesetzt, wenn dieser Auftrag beendet ist. «Borokin griff in die Brusttasche, aber Irene winkte ab. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Nur noch dieses eine Mal, dachte sie. Dann ist Mutter frei. Dann werde ich Bonn verlassen, am gleichen Tag, und weit, weit weg gehen. nach München, oder an die Nordseeküste oder an die Ostsee. Nur weg von hier, wo vier Jahre lang jeder Atemzug Angst einsaugte, jedes Klingeln an der Wohnungstür das Herz vor Schreck stillstehen ließ. Und den Namen Borokin werde ich hassen wie den Satan.
«Um welche Fotokopie handelt es sich jetzt?«fragte sie rauh.
«Um gar keine. Es geht um einen Menschen.«
Irene Brandes sah Jurij Alexandrowitsch Borokin mit gesenktem Kopf an. Ihre umrandeten Augen glitzerten in der Sonne.
«Wie soll ich das verstehen?«fragte sie.
«Kommen Sie, mein Täubchen. «Borokin sah schnell auf seine Uhr.»Wenig Zeit bleibt uns. Sie haben keinen Sinn für Pünktlichkeit. Ich fahre Sie. Ihren Wagen holen wir gegen Mittag ab.«
Borokin bezahlte beim Hinausgehen, dann stiegen sie in den unauffälligen dunklen Wagen des Kulturattaches und fuhren zurück nach Bonn. Auf der Zufahrtsstraße zum neuen Bundesverteidigungsministerium hielt Borokin am Straßenrand, holte eine Packung Zigaretten aus dem Rock und bot Irene Brandes eine Zigarette an. Rauchend saßen sie darauf im Wagen und sahen die Straße hinunter.