«Er kommt um zehn Uhr«, sagte Borokin.»Immer zu Fuß. Seine Wohnung liegt zehn Minuten entfernt, und es macht ihm Spaß, durch den Morgen zu gehen. Da, sehen Sie, mein Täubchen?«
Die Straße herauf kam ein junger Mann in der Uniform eines Oberleutnants. Er ging schnell und mit weit ausgreifenden Schritten. Über seinem Jungengesicht lag die strahlende Morgensonne, unter der Mütze quollen blonde Haare hervor. Auf der anderen Straßenseite ging er an den schwarzen Wagen vorbei, ohne einen Blick zur Seite zu werfen. Borokin stieß Irene Brandes leicht an.
«Ein netter Mensch, nicht wahr?«Er lächelte breit.»Sie müßten keine Frau sein, Täubchen, um jetzt zu sagen: Mir gefällt er nicht.«
«Er sieht so ahnungslos aus«, sagte Irene leise.»So unbekümmert. Was wollen Sie von ihm?«
«Er heißt Wolfgang Wolter. Siebenundzwanzig Jahre alt. Offizier der Abwehr, Abteilung >Fremde Heere Ost<. Der Vater in Rußland vermißt, die Schwester seit gestern bei Tiflis verschwunden. Irgendwie gibt es einen Zusammenhang zwischen Schwester und Bruder, so vermutet man in Moskau. Das herauszubekommen, ist Ihre Aufgabe, Irene. «Borokin lehnte sich zurück. Wolfgang Wolter war stehengeblieben und sah einem Mann nach, der einen Hund, einen Spaniel, spazierenführte.»Beobachten Sie ihn genau. Täubchen. Oberleutnant Wolter ist Tierliebhaber. Ein Hundenarr. Er hat selbst einen einjährigen Schäferhund, den er ab nächste Woche zur Dressur führen wird. Im >Verein Deutscher Schäferhunde< in Bonn-Duisdorf. Kommenden Sonntag, um 10 Uhr, ist die erste Stunde.«
«Warum erzählen Sie mir das alles?«fragte Irene Brandes. Ihre Stimme war plötzlich klein und kindlich. Sie sah Wolfgang Wolter nach, wie er sich bückte, den Spaniel streichelte, ein paar Worte mit dem Mann sprach und dann weiterging zu dem großen Gebäudekomplex des Ministeriums. Borokin lächelte breit.
«Ein schöner Mann, nicht wahr, Irene? Es freut mich, daß Ihr Herz Anteil nimmt. So wird es leichter für uns alle. «Borokin wurde plötzlich ernst und dienstlich.»Sie werden die Bekanntschaft Wolters suchen und — ich zweifle nicht daran — auch machen, und es wird Ihnen nicht schwerfallen, zu erreichen, daß er sich in Sie verliebt. Ich wüßte keinen Mann, der an Ihnen vorbeigehen könnte.«
«Das ist gemein, Borokin!«sagte Irene laut.»Das ist niederträchtig!«
«Aber notwendig, mein Täubchen. Ihre Mutter wartet auf eine Unterschrift, Moskau auf eine wichtige Information. Gemein und niederträchtig ist allein das Jahrhundert, in dem wir leben, und aus dem wir machen müssen, was sich daraus machen läßt.«
Borokin ließ den Motor an, drehte auf der breiten Straße und fuhr zurück nach Bonn und an den Rhein zu dem kleinen Cafe, wo Irenes kleiner weißer Wagen in der Sonne stand. Stumm fuhren sie die ganze Strecke, nur Irene rauchte mit hastigen Zügen zwei Zigaretten hintereinander. Erst als sie auf dem Parkplatz hielten, sprach Bo-rokin wieder.
«Sie werden morgen einen kleinen Boxerhund bekommen«, sagte er.»Ein Weibchen. Wolters Schäferhund ist ein Rüde. Auch Ihr Hund — er heißt übrigens Anette von der Hardthöhe, schön, nicht wahr? — ist bereits zur Dressur angemeldet. Ein leichteres Kontaktnehmen gibt es nicht. Die beiden Hunde werden sich begrüßen, es ist ein besonders schönes Boxerweibchen. Sie werden Oberleutnant Wolter sofort sympathisch sein.«
«Und wenn ich mich in Wolter ernsthaft verliebe, Borokin?«Das war eine Drohung, und Jurij Alexandrowitsch verstand sie sofort.
«Damit rechnen wir, mein Täubchen. Aber wir rechnen auch mit Ihrer Liebe zur Mutter. «Borokin öffnete die Tür seines Wagens, und
Irene Brandes stieg aus.»Heute abend bringe ich Ihnen die schöne Anette von der Hardthöhe«, sagte er und winkte Irene fröhlich zu.»Ein wirklich süßes Tierchen. An Ihrer Seite — man wird staunen, wie verschwenderisch die Natur sein kann bei Mensch und Tier.«
Ohne sich umzublicken, stieg Irene Brandes in ihren Wagen, und in einer Staubwolke jagte sie hinüber zu der breiten Rheinstraße.
Jurij Alexandrowitsch Borokin sah ihr nachdenklich nach. Er liebte keine Geschäfte mit Frauen, das Herz ist ein zu großer Unsicherheitsfaktor. Aber gab es eine andere Möglichkeit, an Wolfgang Wolter heranzukommen? Moskau verlangte eine Aufklärung; um die Wege kümmerte es sich nicht.
Borokin seufzte tief und fuhr langsam ebenfalls zum Rhein hinunter. Das Leben eines Kulturattaches ist schwer, wenn er sich nicht nur mit der Kultur beschäftigen muß.
An diesem 20. Mai geschah noch manches. In Göttingen und in Tiflis.
Agnes Wolter erhielt nach einer schlaflosen Nacht, in der sie unruhig hin und her wanderte und die Spät- und dann die Frühnachrichten aller Sender abhörte, Besuch von einem Herrn, der sich Erich Hornberg nannte. Er war der Göttinger Vertreter der Fluggesellschaft DBOA, und er war sehr verlegen, als er von Frau Wolter zu einer Tasse Kaffee eingeladen wurde. Er sah ihre rotumränderten, verweinten Augen, ihre zitternden Hände, das Zucken in den Mundwinkeln, und er wußte auch, daß sie die Nacht nicht geschlafen hatte, denn wer kann Schlaf finden, wenn sein Kind irgendwo einen grauenhaften Tod gefunden haben soll.
«Sie bringen mir die Nachricht, nicht wahr.?«sagte Agnes Wolter tapfer, als sie den Kaffee eingegossen hatte. Erich Hornberg drehte den Löffel stumm in der Tasse, obwohl er gar keinen Zucker genommen hatte, der sich auflösen mußte.»Bitte, sagen Sie es! Ich habe die ganze Nacht Zeit genug gehabt, mich auf diese Nachricht vorzubereiten. Ich habe gegen Gott gemurrt, und ich habe gebetet, und danach wurde mir leichter. Es ist doch nicht zu ändern, nicht wahr? Man begreift es nicht, man will es einfach nicht begreifen, aber es ist ja wahr. Damals, als mein Mann nicht wiederkam, habe ich jahrelang gehofft. Vermißt ist nicht tot, sagte ich mir immer. Vermißte können zurückkommen. Und dann wußte ich, nach zehn Jahren, daß Karl nie wiederkommen würde. Ein Kamerad aus der Gefangenschaft besuchte mich. Karl war an Typhus gestorben. Im Lager Porsu-Burun. Auf der Karte habe ich es dann gesucht… ein kleiner Ort am Kaspischen Meer. Es ist ein Name geworden, den ich nie vergessen werde… wie Tiflis. «Agnes Wolter faltete die Hände vor der weißen Schürze, die sie auch im Laden immer trug. So sauber sah sie darin aus, so mütterlich und ehrlich.»Sie… sie ist tot, nicht wahr?«
Erich Hornberg zog den heißen Löffel aus der Kaffeetasse. Sein rundes, gebräuntes Gesicht — er hatte in Göttingen ein kleines Haus und lag nach Dienstschluß immer im Garten — wirkte etwas fahl.
«Die Maschine, die Ihre Tochter flog, die XA-19, war es, ja. «Hornberg atmete ein paarmal auf. Er verfluchte innerlich den Auftrag der Direktion in Hamburg. Davor drücken sie sich, dachte er erbittert. Das überlassen sie den kleinen Angestellten. Im Namen der Direktion… das ist so einfach für die in Hamburg.»Es hat neunzehn Tote gegeben. Aber Ihre Tochter ist nicht darunter.«
In Agnes Wolter zerriß der dünne Panzer, den sie sich in der Nacht um ihr Herz gelegt hatte. Sie schrie auf und klammerte sich an der Kante des Wohnzimmerschrankes fest. Erich Hornberg sah schnell zur Seite, er spürte ein Brennen in seinen Augen.
«Sie… sie. Bettina lebt?«stammelte sie.
«Die Toten sind sämtlich identifiziert worden. Auch die Verletzten. Sie sind, mit Ausnahme von Chefpilot Pohlmann, alle außer Lebensgefahr. Aber. «Hornberg stockte. Erst der Mann vermißt, dachte er. Jetzt muß man ihr sagen, daß auch die Tochter in Rußland. Oh, dieser Mist! Diese verfluchte Welt! Er sah aus dem Fenster hinaus in den Hinterhof mit den Mülltonnen.
«Aber.?«wiederholte Agnes Wolter leise.»Was ist mit meiner Bettina geschehen. Ist. ist sie schwer verletzt. Mußte man etwas amputieren? Oder ist sie blind? Sagen Sie es ruhig, Herr Hornberg. es ist alles nicht so schlimm. Sie lebt ja. ich habe sie wieder. sie wird jetzt immer bei mir bleiben.«