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«Wundervoll! Ober — zahlen!«Wolter nickte zum Büfett. Irene beugte sich schnell vor und legte ihre Hand auf seinen Arm.

«Herr Wolter… es war doch nur ein Scherz.«

«Bei solchen Scherzen knurrt mein Ajax. Bitte, reizen Sie ihn nicht. Wir gehen jetzt gemeinsam essen.«

«Und Ihre Zeit? Können Sie so einfach über Ihre Stunden verfügen?«

Das klang völlig harmlos, ein wenig erstaunt, ein bißchen neugierig, so hintenherum gefragt, wie es Frauen gern tun. Wolfgang Wolter zahlte und antwortete erst, als der Ober wieder gegangen war.

«Ich habe heute einen freien Tag. Sonst sieht es anders aus. Heute ist überhaupt ein Glückstag. Ajax bezwingt die hohe Mauer, Ihre Anette verliebt sich in meinen Playboy.«

«Na na!«sagte Irene Brandes stockend.

«.die Sonne scheint heiß wie im August, und ich brauche keine Uniform zu tragen.«

«Ach«, sagte Irene Brandes etwas dümmlich, und sie schämte sich maßlos, eine solche Rolle zu spielen.»Sie sind von der Bundesbahn?«

«Nicht ganz. Ich bin Offizier.«

«Sie? Offizier? Aber nein. «Irene lachte gequält.

«Wieso?«Wolfgang Wolter sah an sich herunter.»Sehe ich so dumm und krumm aus, daß dies wie ein Witz klingt? Das wäre in meinem Alter traurig. Solche Mutationen finden erst ab Stabsoffizier statt.«

«Sie sind ein richtiger Offizier? So mit Uniform und Waffen und silbernen Litzen?«

«Sogar mit einem Gesangbuch für die Truppe und einem mit Erfolg absolvierten Tanz- und Anstandskurs für Bewerber vakanter Stellen an ausländischen Missionen. «Wolfgang Wolter winkte ab, als er Irenes gut gespielten, verwirrten Blick sah.»Das klingt alles sehr hochtrabend. Ich bin Oberleutnant, und wenn ich Glück habe, bekomme ich eines Tages die Stelle eines Attaches an einer Botschaft.«

«Ich glaube, man nennt das Militärattache?«

«Ganz richtig.«

«Und so etwas werden Sie?«

«Wenn es den Ministern gefällt. «Wolter lachte und faßte Irene ungeniert unter.»Aber genug davon. Heute bin ich Zivilist — oder mit Faust: Heut bin ich Mensch, heut darf ich's sein! Und einen Bärenhunger habe ich auch. Ich sage das, bevor Sie mein Magenknurren erschreckt. «Es wurde ein schöner Tag.

Als man sich gegen 19 Uhr trennte, nach einer kleinen Bootsfahrt auf dem Rhein bis Bad Honnef und wieder zurück, vorbei am Drachenfels und seiner berühmten Burgruine, war sich Irene Brandes klar, daß Jurij Alexandrowitsch Borokin sie in einen Auftrag hineingesetzt hatte, der über ihre Kraft ging. Sie fühlte es ganz deutlich, als das kleine weiße Schiff um die Insel Nonnenwerth fuhr und auf dem Rückweg an dem in der Abendsonne weiß leuchtenden schloßähnlichen Gebäude der sowjetischen Botschaft in Rolandseck vorbeituckerte, dem Haus, in dem sie einmal auf den Knien gelegen und geschrien hatte:»Laßt meine Mutter frei! Ich werde alles tun, wenn meine Mutter freigelassen wird!«

Vielleicht steht Borokin am Fenster seines Zimmers und sieht jetzt hinunter auf den Rhein, dachte sie, während Wolfgang Wolter neben ihr über den Rolandsbogen sprach und sagte:»Sehen Sie dort, die russische Botschaft! Da müßte man mal Mäuschen sein. «Wie immer wird er hinter der Gardine stehen, die Hände auf dem Rücken, und das kleine Boot beobachten, ohne zu wissen, daß ich mit Wolfgang Wolter darin sitze. Oder weiß er auch das? Borokin weiß alles, hatte er immer gesagt, und er bewies es auch mit Kenntnissen, die unheimlich waren.

Von dieser Minute an, während der ganzen weiteren Rückfahrt, war Irene einsilbig und wie verschlossen.

«Wann sehen wir uns wieder?«fragte Wolter, als sie sich am Alten Zoll in Bonn verabschiedeten.

«Ich weiß nicht«, sagte Irene ausweichend.»Vielleicht wieder auf dem Hundedressurplatz?«

«Erst nächste Woche? Unmöglich! Mein Ajax.«»Sie haben sicherlich strammen Dienst.«

«Abends, nach zwanzig Uhr, könnte ich mich freimachen. Sagen wir übermorgen? Darf ich Sie irgendwo abholen?«

«Wenn wir uns treffen… am Alten Zoll.«

«Einverstanden! Übermorgen zwanzig Uhr.«

«Und wenn es nicht geht? Kann ich Sie erreichen, telefonisch?«

«Nur unter einer Dienstnummer. 2 01 61, Apparat 918.«

Irene Brandes nickte. 2 01 61, die Nummer des Verteidigungsministeriums, kannte sie. Apparat 918… das war der erste kleine Schritt in das militärische Leben des Oberleutnants Wolter.

«Und wer meldet sich da?«fragte sie ganz harmlos.

«Ein Oberfeldwebel Schmitz.«

«Ach so.«

Sie gaben sich die Hand, und Irene genoß den Glanz in Wolters Augen. Als er ihr die Hand küßte, war es für sie mehr als eine Geste, auch wenn der Kuß nur gehaucht war.

«Es war ein schöner Tag«, sagte Wolfgang Wolter.»Ich danke Ihnen, Irene.«

Verwirrt sah sie ihm nach, wie er in seinen Wagen stieg und abbrauste. Schon als er längst über die Rheinstraße entschwunden war, stand sie noch immer am Straßenrand und starrte ins Leere.

Ich habe mich verliebt, dachte sie. Mein Gott, was soll daraus werden? Es geht ja jetzt nicht allein um mich, sondern auch um Mutter.

Und sie wußte plötzlich, daß Borokin ein Teufel war und sie einer gnadenlosen Zeit entgegenging.

Sie hatten Rosinenbrot mit dicker goldener Butter gegessen und dazu süße Kirschenlimonade getrunken. Väterchen Kolka bekam einen Krug Kwaß.»Das süße Zeug verklebt mir die Zunge, meine Lieben«, sagte er und schüttete sich den gegorenen Saft in einen Zinnbecher.»Und was ist ein Mensch, wenn er nicht mehr reden kann? Na? Ich weiß auch keinen Vergleich, woran man sieht, wie schlimm so etwas ist.«

Man redete eine Stunde so herum, schlich wie die Katze um den Rahmtopf, und keiner hatte den Mut, mit dem Pfötchen in die Milch zu treten. So einfach ist das nämlich gar nicht, Freunde. Da fängt man nachts an der Ölleitung ein flüchtendes Vögelchen, bringt es mit, hört sich eine Geschichte an, die einem die Tränen in die Augenwinkel drückt, man ist sogar bereit, sie zu glauben, weil das Vögelchen gar so schöne Augen hat und Wölbungen in der Bluse, die das Herzchen erfreuen — aber irgendwo, in einem Winkel des Verstandes, bleibt immer noch die Frage: Wie soll es weitergehen? Was machen wir morgen und übermorgen? Und nächste Woche? Und was am wichtigsten ist: Das Menschlein hat keinen Ausweis.

Probleme sind das! Ein Mensch ohne Papiere ist kein Mensch. Ein richtiger Mensch ist registriert, hat seinen Platz in vielen Akten und Karteikarten. Ein Heer von Beamten beschäftigt sich mit ihm. Eine wichtige Person ist er. Denn wäre er nicht da und die anderen auch nicht, ich frage: Wer sollte dann die Beamten beschäftigen, he? Und wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt, muß man einen Ausweis haben. Mit einem Foto, einigen Stempeln, einer Unterschrift. Erst dann lebt man. Atmen allein genügt nicht. ein Irrtum ist's, Freunde… man muß einen Stempel bei sich tragen. Die Ordnung in der Welt erfordert das.

An alles das dachten Dimitri und der alte Kolka, aber sie sprachen es nicht aus. Wanda Fjodorowa aß so hungrig das Rosinenbrot und trank so zierlich die Kirschenlimonade, daß es ein Frevel gewesen wäre, sie damit zu überfallen: Und wie wird es morgen?

«Wir werden ihr ein neues Kleid kaufen«, sagte Kolka endlich, als Dimitri unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.»Söhnchen, du gehst in den Bazar! Sieh dir ihre Größe an, kauf etwas Gutes und komm sofort zurück. Paßt das Kleidchen, kann sie mitgehen und sich das andere kaufen.«

«Sie sind so nett, Väterchen. «Bettina senkte den Kopf.»Aber wie soll ich es annehmen? Nicht einen Rubel habe ich.«

«Und wie bist du nach Tiflis gekommen?«fragte Kolka. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Diese Sprache, dachte er. So redet kein Bauernweibchen, das nur Schweine getrieben und Kühe gemolken hat und an der Butterwanne stand und leise singend die Butter ausflocken ließ. Wie eine Studierte spricht sie, und auch aussehen tut sie wie ein Mädchen, das mehr gesehen hat als Misthaufen und springende Hähne. Verdammt noch mal, Kolka Iwanowitsch, das ist eine wichtige Frage, woher sie wirklich kommt.