«Du hast keinen Onkel Wanja«, sagte Kolka laut.
«Doch! Ich habe ihn!«schrie Bettina zurück.»Und ich gehe jetzt zu ihm!«
«Dein Onkel heißt Ludwig. Ludwig Gilles. und er wohnt in Flensburg.«, sagte Kolka ruhig.
«Nein!«Ein Aufschrei war's, ein greller Schrei, der im ganzen Hause widerhallte. Auf der oberen Treppe klappte eine Tür. Dort wohnte der grusinische Maler Arkadij Lukanowitsch Bederian, ein wüster Mensch, der soff und wahllos liebte, dekadente Bilder malte, nach Ansicht der Kulturvorsitzenden des Rates sowjetischer Künstler, und der sich vom Verkauf gezeichneter Postkarten ernährte, die er am Flugplatz und am Hauptbahnhof den Reisenden anbot. Unter der Hand flüsterte man allerdings, daß er auch Fotos verkaufte, nackte, herrliche kaukasische Mädchen, bei deren Anblick einem rechten Mann das Wasser im Munde zusammenläuft. aber wie gesagt, man munkelte es bloß. Auf jeden Fall galt Arkadij Lukanowitsch als ein großes Schweinchen, aber er lebte mit sich und der Welt zufrieden dahin.
«Was ist das da unten?«schrie Arkadij Lukanowitsch die Treppe hinunter.»Warum quietscht das süße Vögelchen? Juckt es dem Alten in den Fingern, was? Eine schöne Wirtschaft ist das, der Teufel soll's holen!«
«Komm herein und schließ die Tür«, sagte Kolka.»Arkadij ist wieder besoffen. Er braucht nicht zu hören, was wir miteinander zu reden haben. Komm herein, meine kleine Bettina.«
Die Stimme Kolkas war wie ein Magnet. Bettina trat vollends ins Zimmer und schloß hinter sich die Tür. Hinter ihrer zuckenden Stirn arbeiteten die Gedanken.
Ludwig Gilles. woher weiß er, daß mein Onkel Ludwig Gilles heißt und in Flensburg wohnt? Er ist der Bruder von Mutti. Amtmann in der Stadtverwaltung. Wer. wer ist dieser Kolka Iwano-witsch Kabanow.
«Soll ich dir noch mehr sagen, Betti?«fragte der alte Kolka. Ganz nahe standen sie nun beieinander, sahen sich an, und in Bettina verschwand die Angst und die Panik, die sie wieder wegtrieb aus dem Hause Dimitris. Es war ihr wieder, als habe sie Kolka schon seit Jahrzehnten gesehen und immer diese grauen, gütigen Augen vor sich gehabt.
«Ich muß das Essen machen«, sagte sie leise.»In einer Stunde kommt Dimitri nach Hause.«
«Du heißt Bettina Julia Maria Wolter«, sagte der alte Kolka langsam. Über die Augen Bettinas zog ein Schleier, durch den sie Kol-kas Gesicht wie im Nebel schwimmend sah.»Du bist geboren am 19. Juli 1943 in Göttingen. Dein Vater lag am Tage deiner Geburt in einem Erdbunker vor Smolensk, und als das Telegramm von der Feldpostleitstelle über das Bataillon weitergegeben wurde zum Bunker, trank dein Vater mit seinen Kameraden eine halbe Flasche Kognak, die als Geschenk aus der Marketenderei kam. Er war so glücklich, dein Vater. Erst ein Sohn, Wolfgang Ludwig. nun eine Tochter. Nur einmal hat er die Kleine gesehen, bei einem Urlaub 1943, im Winter. Du lagst in einem Körbchen und schliefst, als er sich zum erstenmal über dich beugte. Und deine Mutter — Agnes, hat sie noch immer das Grübchen in der linken Wange? — weinte, als fünf Tage später ein Telegramm von der Truppe kam und dein Vater den Urlaub abbrechen mußte. Die russische Winteroffensive begann. Und dann hat dich dein Vater nie wiedergesehen.«
«Nein.«, stammelte Bettina. Die Schleier vor ihren Augen wehten. Mutters Grübchen in der linken Wange — er kennt es. Er kennt alles. Alles! O Gott, mein Herz. mein Herz.»Nein«, sagte sie kaum hörbar.»Mein Vater wurde in Rußland vermißt. Später brachte ein Heimkehrer aus der Gefangenschaft die Nachricht mit, daß er gestorben sei. Verhungert.«
«Er ist nicht verhungert«, sagte der alte Kolka und legte beide Hände um den Kopf Bettinas. Dann zog er sie an sich und umarmte sie.»Ich bin dein Vater. «Seine Stimme schwankte.»Ich bin Karl Wolter.«
Aus seinen Armen und schnell zugreifenden Händen glitt ihm Bettina weg auf die Erde. Sie wurde besinnungslos.
Und Kolka Iwanowitsch, der einmal vor zweiundzwanzig Jahren Karl Wolter hieß, hob sie auf, nahm sie auf seine Arme und trug seine Tochter hinüber in sein Zimmer, und dabei liefen ihm die Tränen aus den alten Augen und rannen über die Runzeln in seine Mundwinkel.
Um die Mittagszeit kam Dimitri nach Hause.
Er war wie immer fröhlich gestimmt, denn ein verliebter Mensch ist wie ein immer klingendes Instrument, voll Musik und seine Umwelt erfreuend. Zwei Stufen der Treppe auf einmal nahm er, begegnete dem betrunkenen Arkadij Lukanowitsch, der sich zum Flugplatz aufmachte, um seine Postkarten an den Mann zu bringen, riß die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Kolka Iwanowitsch stand am Gasherd und kochte. Es roch nach Wurzelgemüse und Kochfleisch. Eine kräftige Nahrung, Freunde, denn an die Soße kommt viel saure Sahne.
«Hast du das gesehen, Väterchen?!«rief Dimitri und schwenkte eine Zeitung. Natürlich, die Tbilisi Prawda war's, und das Bild Bettinas war nach oben gefaltet.»Hast du schon die Zeitung studiert?«
«Natürlich«, brummte Kolka und rührte in den geschnitzelten Möhren.
«Das Bild! Diese Ähnlichkeit! Man soll's nicht für möglich halten. Gelacht habe ich. Und zu meinen Freunden habe ich gesagt: Seht es euch an! So ähnlich sieht meine Wanda aus. Und sie beneiden mich alle.«
«Ein Idiot bist du!«sagte Kolka laut und goß Bouillon in die Möhren.»Ein vollkommener Idiot.«
«Aber Väterchen! Stolz bin ich auf Wanda Fjodorowa. Darf ich mich nicht sonnen in meinem Glück?«
«Ob's ein Glück wird, das kann die nächste Stunde zeigen«, sagte Kolka Iwanowitsch.»Setz dich, das Essen ist gleich fertig. Nur noch die Soße… fünf Minuten.«
Dimitri sah sich um und legte lauschend den Kopf zur Seite. Aus den Nebenzimmern hörte er keinen Laut.
«Wo ist Wanduscha?«fragte er.
«Sie schläft«, antwortete Kolka kurz.
«Jetzt?«Dimitri warf die Zeitung auf den Tisch und kam zum Herd. Er sah jetzt, daß Väterchen Kolka verändert war, ja, wirklich, ganz anders sah er aus. Rasiert war er, bei Gott, eine glatte Wange hatte er, wie eine Kinderhaut, und mit dem Handapparat hatte er sich sogar die Haare geschnitten. Nicht mehr lang und weiß waren sie, sondern kurz, fast stoppelig, als habe sein Kopf unter einem Rasenmäher gelegen.
«Wie siehst du denn aus, Väterchen?«fragte Dimitri verblüfft.»Man erkennt dich kaum.«
«So sehe ich immer aus«, sagte Kolka ruhig, goß die Fleischbrühe in die Möhren und machte sich daran, die saure Sahnesoße für das Fleisch anzurühren.
Dimitri zögerte. Die alte, eingewurzelte Achtung vor dem Vater hielt ihn zurück, heftig zu werden. Aber dann griff er doch mit beiden Händen zu und drehte den soßerührenden Kolka herum.
«Was ist geschehen, Väterchen?«rief er.»Du veränderst dich, Wanda Fjodorowa soll am hellen Tag schlafen… was ist vorgefallen? Wo ist Wanda?«
«Nebenan, in meinem Zimmer. Mach die Tür auf und sieh sie dir an. Dein Täubchen ist unverletzt. Ein Rätsel ist's nur, daß sie einen Kindskopf wie dich liebt.«
«Hat sie zu dir gesagt, daß sie mich liebt?«Dimitris Augen glühten.»Erzähle, Väterchen! Was sagt sie über mich?«
«Sie weinte.«
«Vor Glück.«
«Aus Elend.«
Der Glanz in Dimitris Augen erlosch. Was Kolka sagte, war stets die Wahrheit gewesen, und wenn Wanda Fjodorowa weinte, so war das keine Lüge, sondern sie hatte großen Kummer.
«Ich muß zu ihr!«rief Dimitri. Aber Kolka hielt ihn am Ärmel fest:»Bleib! Laß sie schlafen, Söhnchen.«