Pohlmann schwieg. Bettina kam in die Kanzel und setzte sich müde auf den Klappstuhl. Ihr Gesicht war bleich, und in ihren Augen lag eine unverhohlene Angst. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sich durch das kurze Haar fuhr, eine müde, hilflose Bewegung.
«Was ist hinten los?«fragte Pohlmann hart.
«Noch schlafen sie. Aber ich habe Irene und Uwe geweckt. Sie stehen bereit, um eine Panik zu verhindern.«
«Und der Inder?«
«Er sitzt in seinem Sessel wie versteinert. Und er spricht auch nicht mehr.«
Von draußen hörten sie jetzt ein Heulen. Ein Schatten jagte nahe an ihnen vorbei, zog vor ihnen hoch und verschwand gegen den Sternenhimmel. Ein kurz blitzender, gezackter Pfeil. Pohlmann umklammerte das Steuer und sah hinüber zu Andresen. Der stand am Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe.
«Hast du gesehen?«
«Sowjetische Jäger!«Andresen ließ sich auf seinen Copilotensitz fallen.»Wir sind also schon über Rußland.«
Wieder das helle Heulen. Wieder ein Schatten… und noch einer. und ein dritter. Wie Libellen umschwärmten sie das große Flugzeug, stießen von oben und von den Seiten heran und jagten nun neben der gläsernen Kanzel her. In einem Jäger wurde Licht angeknipst. Pohlmann, Andresen und Bettina sahen deutlich den Kopf des Piloten in dem dicken Lederhelm mit dem Kehlkopfmikrofon.
«Er ruft uns an«, sagte Andresen.»Spätestens in drei Minuten muß er merken, daß bei uns alles im Eimer ist. «Er klopfte an die große gebogene Scheibe und winkte.»Wir sind der Fliegende Holländer, Iwan! Mach drei Kreuzchen…«
«Jetzt winkt der Russe!«Bettina umklammerte den Arm Pohlmanns.»Was will er?«
Werner Pohlmann starrte hinüber zu dem gefährlich nahen sowjetischen Jäger. Der Pilot hob die Hand, winkte nach unten und dann in die Ferne. Dann drehte er ab, flog einen Kreis, kam zurück und drehte wieder ab.
«Wir sollen folgen«, sagte Pohlmann. Seine Stimme klang um einen Grad freudiger als sonst.»Er zeigt uns den Weg. Kinder, wir werden sicher in Tiflis ankommen. Wir haben es geschafft!«
Er beugte sich etwas vor und zog die schwere Maschine auf den Kurs, den ihm der sowjetische Jäger angab. Nun flog er hinter der kleinen, schillernden Libelle her, und die Sterne gaben ein trübes Licht, aber genug, um den leitenden Jäger zu sehen.
Paul Andresen wischte sich über das Gesicht. Jetzt erst merkte er, wie sehr er schwitzte, und wie groß innerlich seine Angst gewesen war. Als er ausatmete, war es ein lauter Seufzer.
«Junge, das geht ans Gemüt«, sagte er mit unsicherer Stimme.»Und dann noch der Inder mit seinen dämlichen Reden. Kennst du Tiflis, Werner?«
Chefpilot Pohlmann sah starr geradeaus.
«Nein«, sagte er gepreßt.
«Wie lang ist die Bahn?«
«Keine Ahnung.«
«Von wo mußt du denn anfliegen?«
«Die Mig wird es mir zeigen. Tiflis ist doch noch von keiner europäischen Gesellschaft angeflogen worden. Aber keine Sorge, Paul… wir schaffen es, und wenn's auf dem Bauch ist.«
4 Uhr 42 Minuten.
Die Scheinwerfer hatten die Maschine voll im Licht. General Oronitse, der gerade in seinen Wagen steigen wollte, um noch ein paar Stunden zu schlafen, denn ein übernächtigter General ist so etwas wie eine Naturkatastrophe, stieg wieder aus, stellte sich auf die Straße und hob das Nachtglas an die Augen.
«Keine Positionslichter, alles dunkel. Genossen, da kann eine große Schweinerei herunterkommen! Fahren wir zurück zur Flugleitung!«
Über das Flugfeld rasten bereits sowjetische Feuerwehren und Krankenwagen. Im Hauptgebäude wurden die ersten auf den Morgenflug wartenden Passagiere in eine Nebenhalle geführt, deren Türen man einfach abschloß. Man gibt da keine langen Erklärungen. Gehorchen und Vertrauen ist alles, Genossen! Im nahe gelegenen Grusinischen Krankenhaus Nummer I sprangen die diensthabenden Ärzte aus den Betten und es wurden drei OPs vorbereitet. Dabei kam heraus, daß der junge Arzt Dr. Woroneff bei der Schwester Darja geschlafen hatte; ein fataler Fall, denn Oberarzt Dr. Scheslew war mit Schwester Darja offiziell verlobt.
«Wir reden noch darüber, Brüderchen«, sagte Scheslew zu Woroneff.»Auch Freiheiten im Arbeiterparadies haben doch gewisse Grenzen.«
«Tiflis«, sagte in diesem Augenblick Pohlmann und sah hinunter. Zwischen den Bergen des Kaukasus leuchtete auf einer Hochebene die Stadt auf. An den Hängen roter Hügel, die tagsüber wie in Glut erstarrte Lava aussehen, steigt sie empor über den Fluß Kura, ein orientalisches Märchen mit gewundenen, steilen, in sich verschlungenen Straßen und Gassen der Altstadt und breiten Alleen und Prachtstraßen der Neustadt, gesäumt von kaukasischen Platanen und gebaut auf einem Boden, aus dem die heißen Schwefelquellen sprudeln, die der Stadt ihren Namen gaben. Tbilisi… die Stadt des warmen Wassers.
Jetzt, in der Nacht, flimmerten Tausende von Lichtern über Ebene und Hänge, über den Mtatsminda-Hügel mit dem Pantheon und den Sololaki-Hügel. Pohlmann hatte die Maschine tief heruntergezogen und die Motoren gedrosselt. Vor ihm her flog noch die kleine, schnelle, silbern blitzende Mig und leitete ihn zum Flughafen.
Im Passagierraum hatten die Stewardeß Irene und Chefsteward Uwe Peters die Reisenden geweckt und dreisprachig die immer wiederkehrende Bitte ausgerufen:»Bitte anschnallen! Ganz ruhig bleiben. Wir müssen in Tiflis zwischenlanden. Eine kleine Störung an der elektrischen Anlage. Bitte anschnallen! Es ist völlig ungefährlich. Behalten Sie bitte Ruhe, meine Herrschaften.«
Bettina Wolter ging mit einer Taschenlampe von Sitz zu Sitz und verteilte Orangeade. Sie sah in schreckensweite Augen und bemerkte zitternde Hände, die das Glas annahmen und an die Lippen führten.
«Keine Angst, Madame«, sagte sie zu einer jungen Französin, die leise vor sich hin weinte.»Es ist wirklich nur ein kleiner Schaden an der Elektroleitung.«
«Merci, Mademoiselle. «Die Französin nickte Bettina zu. Sie flog zum erstenmal, und sie bekam Mut, als sie die Ruhe der Stewardeß sah.
«Der Flugplatz!«
Pohlmann und Andresen starrten hinunter. Die Landebahn war hell erleuchtet, am Rand der Betonpiste glühten die Grenzlichter. Ein starker Scheinwerfer vom Hauptturm erleuchtete zusätzlich das Feld. Vor ihnen drehte der kleine sowjetische Jäger ab, stieß steil in den Himmel und verschwand. Er konnte nun nicht mehr helfen.
Pohlmann zog in einer weiten Schleife über den Flugplatz hin, um die Maße abzuschätzen. Der erste Anflug war mißglückt.
«Wir sind zu spät herunter«, sagte Pohlmann mit völlig ruhiger Stimme.»Wir müssen steiler aufsetzen. «Sein Blick überflog noch einmal die Meßinstrumente. Alle Zeiger auf Null. Das Höhenruder, die Kontrolle für das Räderausfahren — nichts.
«Räder raus!«sagte Pohlmann gepreßt. Paul Andresen drückte die nötigen Hebel. Die Kontrolluhren schwiegen. Es war nicht festzustellen, ob das Bugrad und die Haupträder überhaupt aus den Klappen ausfuhren, ob die Landeklappen reagierten. Nur die Motoren gehorchten… Pohlmann drosselte sie und schaltete dann auf Bremswirkung.
Elegant schwebte die schwere Maschine herein, aus der Nacht, von den Bergen des Kaukasus kommend, steil auf die erleuchtete Landebahn zu.
Wladimir Mironowitsch Bubnow in seinem Radarturm blieb der Sonnenblumenkern in der Kehle stecken, als er die dunkle fremde Maschine aus der Nacht herandonnern sah. Dann hieb er mit beiden Fäusten auf den Tisch und schrie.
«Heilige Madonna von Kasan!«brüllte er.»Zu kurz! Wo will er denn hin?! Zu kurz! Zieh hoch, Brüderchen, bei allen Heiligen, zieh hoch! Du springst doch nicht ins Wasser! Zieh hoch!«
Pohlmann erkannte die Lage sofort, als er die Betonpiste vor sich sah und den Landewinkel. Er startete durch, die Maschine gehorchte, ging in die Waagerechte und brauste heulend über das Flugfeld. Dann aber sackte sie durch, als gäbe es keine Luft mehr um sie herum. Wie ein Stein fiel sie herunter, und es half nichts, daß die Motoren aufschrien und Pohlmann auf Vollgas schaltete.