«Oh!«schrie Wladimir Mironowitsch in seinem Radarturm und warf beide Hände vor die Augen.»Madonna, oh! Er fällt in die Maulbeerplantage. Er fällt… er fällt. Genossen, ist das furchtbar!«
Dann war ein Krachen um ihn, so laut und mächtig, daß seine Trommelfelle zitterten, es war, als schrien tausend kleine Kinder mit hellen, sich überschlagenden Stimmen, und durch die Hände, die vor seinen Augen lagen, sah er noch das Aufzucken von Feuer.
General Oronitse, der am Rande des Flugfeldes stand, senkte den Kopf. Sein Nachtglas pendelte vor der breiten Brust mit den Ordensbändern.
«Scheußlich, Genossen«, sagte er leise.»Doppelt scheußlich, weil man nicht helfen kann. Fahren wir hin.«
Über das Flugfeld jagten die Feuerwehren und Krankenwagen. Vom
Hauptturm aus ging der Alarm an das Grusinische Krankenhaus Nr. I. Die Ärzte und Schwestern standen bereit — falls es überhaupt noch etwas zu operieren und zu retten gab.
Die letzten Sekunden vor dem völligen Durchsacken und dem Aufprall auf die Erde erlebten Pohlmann, Andresen und Bettina Wolter gemeinsam in der gläsernen Kanzel.
Als sie merkten, daß die schwere Maschine keinen Luftwiderstand mehr hatte, sahen sie sich alle an. Im Gesicht Andresens stand die Todesangst wie ein stummer Schrei; Werner Pohlmanns Augen waren grau und hart, seine Lippen ein dünner Strich. Ob er jetzt an seine Frau und die drei kleinen Kinder dachte, oder an die dreiundvierzig Passagiere, die hinter ihm in vier oder fünf Sekunden in einem Feuermeer verbrennen würden?
Bettina Wolter hatte die Fäuste gegen den Mund gepreßt und starrte auf das weite Feld der kleinen Maulbeerbaumzucht, über die sie hinwegjagten und in wenigen Sekunden hineinstürzen würden.
Mutter, dachte sie nur. Mutter — Mutter — Mutter -
Dann war das unbeschreibliche Krachen um sie herum, sie wurde gegen das Glas geschleudert, sah noch, wie Pohlmann alle Motoren auf Aus stellte… und wie von einer Riesenhand gehoben wurde sie durch die Luft getragen, die plötzlich um sie war. Sie sah den Sternenhimmel, die Lichter des Flugplatzes, die heranrasenden Rettungswagen, bei vollem Bewußtsein war sie und doch von einer rätselhaften Schwerelosigkeit… dann fiel sie zwischen kleine, dunkelgrüne Bäumchen, die ihren Fall bremsten, rollte über die dünnen Zweige zu Boden und prallte auf, als sei sie nur einmal hoch in die Luft gesprungen.
Hinter ihr flammte Feuer aus den Trümmern des Flugzeuges. Grelle Schreie durchbrachen das Prasseln und das Sirenengeheul von Feuerwehr und Krankenwagen… auf den Knien lag sie und starrte wie gebannt auf ihr Flugzeug, das in der Mitte durchgebrochen in der Schonung lag, von hinten her zu brennen begann und mit zuckenden Flammen die Menschen beleuchtete, die auf allen vieren von dem Wrack wegkrochen oder noch angeschnallt in den Sit-zen hingen.
Was sie in den nächsten Minuten tat, geschah ohne einen eigenen Willen. Sie taumelte zurück zu den Flugzeugtrümmern und kroch über zerbeulte Blechwände, zerknickte Spanten und wild zerrissene Holzverkleidungen in das Innere des auseinandergebrochenen Rumpfes. Mit einer Kraft, die ihr völlig fremd war, schnallte sie die ohnmächtig in den Gurten Hängenden los und schleppte sie nach draußen. An der zerborstenen Wand lag Irene Heidfeld, die zweite Stewardeß. Ihr Kopf war aufgerissen, und das Blut lief in Strömen über den zuckenden Körper. Neben ihr lag unter einem Blechstück Chefsteward Uwe Peters. In der Brust stak, wie ein Speer, eine abgebrochene Sessellehne. Die Augen waren in weiter Ungläubigkeit erstarrt.
In seinem Sessel hing der Inder und brannte. Schaurig war der Anblick. Von den Füßen her flammte das Feuer an ihm hoch, und er hatte die Hände im Schoß, den Kopf geneigt, als schlafe er, und um seinen Mund lag ein Lächeln.
Es ist sinnlos, vor seinem Schicksal wegzurennen… es läuft einem hinterher.
Bettina Wolter riß Irene Heidfeld ins Freie. Dort standen jetzt Feuerwehr und Krankenwagen. Sanitäter zerrten die noch Angeschnallten ins Freie oder sammelten aus den Maulbeerbüschen die Körper, die hinausgeschleudert worden waren oder mit letzter Kraft flüchteten. Über vier brennende Menschen, die brüllend durchs Gras krochen, warf man Decken und erstickte die Flammen. Aus den Feuerwehrwagen zischten die Schaumlöscher und Übergossen den zerborstenen Rumpf wie mit Schnee. Neue Krankenwagen jagten heran, Milizsoldaten sperrten in weitem Umkreis die Absturzstelle ab, ein Mann in einer goldbetreßten Uniform schrie Kommandos — es war General Oronitse —, und vier Männer zerrten aus der Kanzel den schlaffen Körper Pohlmanns, der fast nackt war und wie mit Blut lackiert.
Bettina schwankte inmitten der rettenden Menschenmenge, jemand sprach sie an, sie gab keine Antwort, man nahm ihr den blutüberströmten Körper Irenes ab, legte ihn auf eine Segeltuchtrage; irgendwo zischte es, die Wagensirenen heulten und rasten vom Flugzeug weg, sie sah Menschen wie um ihr Leben rennen und begann selbst zu laufen, irgendwohin, nur weg von dem brennenden Wrack.
Und dann kam die Explosion. Die Tanks mit dem hochexplosiven Benzin sprangen auf, der Druck warf Bettina in die Maulbeerbäume, sie fiel auf das Gesicht, krallte die Finger in die weiche Erde und verlor die Besinnung.
Sie erwachte von einer angenehmen Kühle. Lange mußte sie nicht gelegen haben, denn das Flugzeugwrack brannte noch immer, jetzt durch die Explosion bizarr zerrissen wie eine moderne Plastik. Die Krankenwagen und die Feuerwehren waren wieder so nahe wie möglich heran, aber es war sinnlos, etwas zu unternehmen. Die Glut schien so stark, daß selbst die Männer in den Asbestanzügen und hitzeabweisenden Folien — wie Marsmenschen sahen sie aus — nicht mehr näher als einen Steinwurf an das Flugzeug herankonnten.
Bettina kniete auf der Erde und sah noch einmal auf den glühenden Haufen von Metall, Glas und Holz.
Ich lebe, dachte sie nur. Ich lebe, Mutter. Ich lebe.
Aber wie werde ich leben.
Es ist das eingetroffen, was nie kommen durfte: Ich bin in Rußland. Ich bin in einem Land, das ich nie betreten durfte. Ich lebe… aber ich habe von dieser Stunde an tot zu sein.
Während die Feuerwehren versuchten, die höllische Glut des Metalls einzudämmen, und während die letzten Krankenwagen über das Feld rasten zum Grusinischen Krankenhaus Nr. I, kroch Bettina ein Stück durch die Maulbeerschonung, erhob sich dann und rannte geduckt, wie ein flüchtendes Wild, in einer kleinen Talsenke davon. Nach hundert Metern blieb sie noch einmal stehen, sah zurück und nahm endgültig Abschied von dem brennenden Wrack, in dem auch das Leben der Stewardeß Bettina Wolter zurückblieb.
Dann wandte sie sich ab und lief, so schnell es ihre zitternden Beine vermochten, der dunklen Wand entgegen, die den Himmel in der Ferne teilte.
Das Gebirge. Der Kaukasus. Die Schluchten und Felsen, aus denen einst die heilige Schuschanik herunterstieg, um in Tiflis den Märtyrertod zu sterben.
Und niemand um das brennende Flugzeug herum bemerkte die schmale Mädchengestalt, die in den weiten Plantagen verschwand. Auch nicht General Oronitse, der rußgeschwärzt noch immer ausharrte und Befehle gab. Auch er sah das Mädchen nicht.
Das war ein Fehler, denn mit dieser Nacht begann ein unruhiges Leben für Fjodor Nikolajewitsch.
Gegen 10 Uhr vormittags sah man endlich klar.
Die Toten und Verletzten waren vollzählig zusammen. Die Toten — neunzehn Männer und Frauen — lagen im Keller des Grusinischen Krankenhauses Nr. I, im Kühlraum 4, um genau zu sein, und wurden eingefroren, denn nun begann ein langes Verfahren mit Untersuchungen, Identifizierungen, diplomatischen Noten und Überführungen in verlöteten Zinksärgen an die Heimatorte der Toten. Die Verletzten — vierundzwanzig — lagen zwei Stockwerke höher in sauberen weißen Betten, unter Sauerstoffzelten, an Blutplasmaflaschen, zwei sogar an künstlichen Nieren. Professor Klimenti Kus-manowitsch Semlakow, der Chef des Krankenhauses, hatte eine kurze, aber klare Besprechung mit seinen Ärzten gehalten.