«Wer war denn der Knabe?«
«Major Hennrichs vom MAD. Eine Kapazität.«
«Kommt sich vor wie ein kleiner Gott in seiner Uniform, was?«
«Du hast eine falsche Einstellung zur Uniform, Vater.«
«Ich habe schon eine getragen, da habt ihr noch in die Windeln geschissen.«
Karl Wolter strich sich über die stoppeligen weißen Haare. Seine Stimme war laut, und Wolfgang begann, sich zu schämen.
«Komm, gehen wir in die Kantine, Vater«, sagte er schnell.»Ich habe nur eine halbe Stunde Urlaub für dieses Gespräch. Wir leben
ja nach Dienstplänen.«
«In die Windeln geschissen!«brüllte Wolter.»Himmel, wie mich das alles anwidert! Keine Luft bekomme ich in dieser Atmosphäre von zackigen Reden und schon strafbarer Selbstüberschätzung! Ich kann mir nicht helfen — in Gegenwart von Uniformen bekomme ich den Geruch von Mist nicht aus der Nase.«
«Gehen wir, Vater«, sagte Wolfgang heiser.»Du änderst es nicht, ob du nun recht hast oder nicht. Du warst zwanzig Jahre hinter den Bergen, und die Welt hat sich gedreht und verändert.«
«In einen Paradies habe ich gelebt. «Wolter wurde in einen Aufzug gestoßen, die Tür schnarrte zu, sie schwebten abwärts.»In einem wahren Paradies, mein Sohn. Eine Wohnung, gutes Essen, jeden Tag zum Abend zweihundert Gramm Wodka, und im Frühjahr blühten die Aprikosen und Kirschen, im Herbst glühte der Wein an den Hängen, und man ging mit einem Korb zu den Bauern und sagte: >Ein reiches Jahr war's, Brüderchen. Ich seh's an deinem Bauch, noch fetter ist er geworden. Komm, mach mir den Korb voll Trauben. Und wenn du mehr verlangst als einen Rubel und zehn Kopeken, schlage ich dir aufs Hirn.< Das war ein Leben!«Karl Wolter sah seinen Sohn an.»Du verstehst das nicht.«
«Nein, Vater. So lebt doch kein Mitteleuropäer.«
«Einen Katzenschiß auf deinen Mitteleuropäer! Ich habe wie ein Mensch gelebt! O Himmel, wenn ich euch alle dazu bewegen könnte, so zu leben!«
In der Kantine waren sie fast allein, setzten sich in eine Ecke, bestellten ein Bier und sahen sich lange schweigend an. An weiter entfernten Tischen tranken und aßen ein paar Offiziere, sie lachten, einer von ihnen erzählte Witze.
«Warum bist du gekommen, Vater?«fragte Wolfgang, als Wolter nicht mit Sprechen begann.
Karl Wolter umfaßte mit beiden Händen sein kaltes Bierglas.»Nicht, um mich zu entschuldigen«, sagte er hart.
«Das habe ich auch nicht erwartet. Ich bin ausfällig geworden — es war meine Schuld, daß du so reagiertest, Vater.«»Danke, Wolf. «Viel Glück lag in diesem Satz, und Wolfgang verstand es und legte seine Hand auf den Arm seines Vaters.
«Was macht Dimitri?«fragte er.
«Er ist weg.«
«Weg? Wohin denn?«
«Nach Frankreich und wahrscheinlich nach Algerien. In die Wüste.«
«Als Ölingenieur, natürlich.«
«Bettina ist schon unterwegs, ihn zurückzuholen. Habe ich Dimitri großgezogen wie meinen Sohn, habe ich nächtelang um ihn gebangt, wenn er krank war, damit er jetzt in der Sahara vom Sandsturm zugeweht wird? Er wird zurückkommen, und auch du wirst es, Wolf.«
«Bist du deswegen gekommen, Vater?«
«Ja!«
«Ich habe große Schwierigkeiten gehabt, Vater. Aus völlig natürlichen Gründen mißtraut man Dimitri. Er ist Russe, er ist Kommunist. Ein solcher Mann in unserer Familie schließt aus, daß ich als Offizier der Bundeswehr ausgerechnet in der Dienststelle Ost sitze. Ich muß versetzt werden, um jede Möglichkeit der Spionage auszuschließen. Es ist einfach eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme. Nur daß ich mich von euch getrennt habe, war der Grund, daß ich noch in Bonn bin und kein Truppenkommando irgendwo, weit weg von Bonn, bekommen habe.«
«Und wäre das schlimm, mein Junge?«fragte Wolter leise.
«Ich kann hier eine glänzende Karriere machen, Vater.«
«Unter Opferung deiner Familie? Lohnt sich das? Bedeutet dir die Uniform so viel?«
«Die Uniform nicht, Vater. Aber ich bin mit meiner ganzen Seele Soldat.«
Wolter schwieg. Was sollte er darauf sagen? Ihm fehlten zwanzig Jahre. Ihm fehlten die Jahre, in denen Wolfgang herangewachsen war, in denen er sich sein Weltbild selbst bildete, in denen er sein Lebensziel zu erkennen glaubte. Damals hätte man es noch steuern können… und, bei Gott, der Sohn Karl Wolters wäre alles andere geworden, und wenn er Steine hätte klopfen müssen, nur kein Soldat! Nun war es zu spät. Zwanzig Jahre ließen sich nicht nachholen.
«Wenn ich dir fremd bin, Junge«, sagte Wolter leise, und seine Stimme zitterte, denn wie schwer ist es, so etwas zu sagen,»ich kann's verstehen. Mutter hat dir immer nur ein Bild gezeigt und aus der Erinnerung gesprochen von mir. Und was ist zurückgekommen? Ein Mann, der so viel erlebt hat, daß ihm das Leben auf der hektischen Welt wie ein schlechter Witz vorkommt. Ein sinnloses, wertloses, blindes Leben führt ihr alle! Doch reden wir nicht darüber. Aber so fremd ich dir bin — so fremd wie der Kolka Iwanowitsch Kaba-now, nicht wahr? — ich bitte dich, Junge: Denk an Mutter! Was du jetzt bist, bist du durch sie. Sie hat dich mit ihrer schwachen Kraft großgezogen, sie hat dich auf die Schulen geschickt, du konntest dein Abitur machen. Und sie hat das alles geschafft, weil sie hinterm Ladentisch stand, jeden Tag, von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Für dich. Und jetzt wirfst du ihre Liebe weg wie einen faulen Kürbis. O Gott, Junge, ich sollte dir jetzt, hier, vor deinen Offizierskameraden, noch eine herunterhauen!«
Wolfgang Wolter schwieg. Er sah aus dem Fenster auf die grünen Rasenflächen vor dem Ministerium. Über sein Gesicht zuckte es.
«Was sagt Irene?«fragte er leise.
«Sie ist mit mir nach Bonn zurückgekommen. Ich glaube nicht, daß sie dich in die Wohnung läßt, wenn du mit Mutter nicht anders verfährst.«
«Also alle gegen mich?«
«Wenn du es so siehst, brauchen wir gar nicht weiterzusprechen. Du benimmst dich wie ein dummer, trotziger Junge.«
«Ich werde mit dem General darüber sprechen, Vater.«
«Was hat der General damit zu tun?«
«Er entscheidet allein, ob ich mit Dimitri in einer Familiengemeinschaft leben darf.«
«Wohlan. «Wolter erhob sich.»Dann rede ich mit dem General!«
«Um Gottes willen, Vater!«Wolfgang Wolter zog ihn auf den Stuhl zurück.»Bloß das nicht! Außerdem wirst du nicht vorgelassen. Nur wenige kennen den General, und auch ich kenne sein Gesicht nur mit einer dicken Sonnenbrille. Aber vielleicht wird er einmal Dimitri sprechen wollen.«
«Das kann er! Bettina bringt ihn zurück. «Wolter stand wieder auf und sah auf die blonden gelockten Haare seines Sohnes. Eigentlich war er stolz auf diesen Jungen, aber das Gefühl mußte jetzt unterdrückt werden.»Und ich?«fragte er hart.»Soll ich zu Mutter mit leeren Händen zurückkommen? Was bringe ich von der Reise mit?«
«Einen Gruß, Vater. «Wolfgang Wolter sprang auf, und plötzlich umarmte er seinen Vater und gab ihm einen Kuß auf die faltige Stirn.»Und sag Mutter, zum Wochenende bin ich wieder in Göttingen.«
Zufrieden verließ Karl Wolter das Ministerium. Selbst der Gedanke an die Millionen, die >Pentabonn< gekostet hatte, regte ihn nicht mehr auf.
Seht, Freunde, so subjektiv ist ein Mensch, ob er nun Ludwig Maier oder Karl Wolter oder Kolka Iwanowitsch Kabanow heißt.
An dem Tage, an dem Jurij Alexandrowitsch Borokin zugreifen und Dimitri nach alter, aber immer noch guter Agentenmanier in einen langsam fahrenden Wagen zerren wollte, fand sich Borokin allein in Göttingen.
Dimitri Sotowskij war weg.
Zwei Tage wartete Borokin vor dem Haus, umschlich es wie eine Katze den Milchtopf, legte sich auf die Lauer wie ein Wolf, der eine Hammelherde aus der Ferne wittert — aber kein Dimitri kam mehr aus dem Haus.
Der Fahrer des Entführungswagens schließlich erfuhr als Käufer von drei Frottierhandtüchern im Geschäft der Agnes Wolter, daß Dimitri verreist sei. Wohin, das sagte keiner.