Borokin fuhr zurück nach Bonn und meldete es nach Moskau.
Und Moskau antwortete so, wie es Borokin befürchtet hatte: Wir erwarten die Meldung, daß Sotowskij unschädlich gemacht ist und sich in unseren Händen befindet!
Wer die russische Befehlssprache kennt, weiß, daß das Leben Bo-rokins auf dem Papier bereits erloschen war. Schon ein normaler Mensch ist gefährlich, wenn er Unfähigkeit beweist — ein unfähiger Offizier aber ist ein Übel fürs ganze Volk. Ein Geschwür, das man entfernt. Verwunderlich war nur, daß Borokin nicht abberufen wurde, sondern weiter mit dem Auftrag betraut war. Das war allein Oberst Jassenskij zu verdanken, der kein Interesse daran hatte, Borokin im Kreml erzählen zu lassen, was er, Jassenskij, für eine Riesendummheit mit dem Sarg der falschen Bettina Wolter verursacht hatte. Die Mißerfolge wogen sich gegenseitig also auf, und so lebte Borokin weiter mit einem Druck im Nacken, der unbeschreiblich war.
Eine Stunde lang verbrachte Borokin sogar mit dem verständlichen Gedanken, sich selbst umzubringen. Dies erschien ihm erträglicher als alles, was man eventuell in Moskau für ihn bereit hielt. Aber dann verwarf er den Gedanken, nicht aus Feigheit, denn feig war Borokin nicht, sondern aus Verzweiflung und purem Lebenswillen.
Noch lebt Dimitri irgendwo, dachte er. Und solange er lebt, kann auch ich leben. Und dann dachte er plötzlich an Irene Brandes, und er wurde ruhig, zuversichtlich, ja innerlich sogar befreit von allem Druck.
Jede Festung hatte eine schwache Stelle in der Mauer, von hundert Türen lassen sich zwei bestimmt eintreten. Und keine Kette ist so fest, daß nicht ein Glied reißen könnte, wenn auch keiner weiß, warum.
Es war spät am Abend, als es bei Irene Brandes klingelte. Sie hatte gerade zu Bett gehen wollen. Nun warf sie ihren Bademantel über, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Eine kräftige Hand fuhr dazwischen, drückte die Tür auf, und ehe Irene sich wehren konnte, stand Borokin in der Diele und warf hinter sich die Tür zu.
«Ich mußte klingeln, Täubchen«, sagte er, packte Irene an der Schul-ter, drehte sie um und schob sie vor sich her ins Wohnzimmer.»Du hast die Schlösser auswechseln lassen. Leider lohnt es sich nicht mehr, von den neuen Schlössern Abdrücke zu machen, denn meine Aufgabe in Deutschland ist bald beendet.«
«Sie verlassen Deutschland, Borokin?«Irene Brandes war bis zur Couch zurückgewichen. Nicht weit davon stand das Telefon… nur noch zwei Meter. Borokin lächelte. Er machte ein paar lange Schritte und riß die Leitung aus der Wand.
«Sie können damit nur Wolfgang heranlocken«, sagte Irene heiser vor Angst.»Wenn er anruft, und er ruft jeden Abend an, und dauernd kommt das Besetztzeichen.«
«Ein paar Minuten nur, mein wildes Schwänchen. «Borokin sah sich um. Er suchte etwas, und als er es gefunden hatte, wurde sein Lächeln breiter. Mit einem harten Griff faßte er Irene und stieß sie durch das Wohnzimmer zu der kleinen Eßnische. Dort umfing er sie und warf sie auf den Tisch. Das geschah alles so schnell und mit einer solchen wilden Kraft, daß Irene sich erst wehrte, als sie mit dem Rücken auf dem Tisch lag. Da trat sie um sich, boxte und krümmte sich zusammen und dann schrie sie, hell und kreischend.»Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Borokin beugte sich vor. Mit der Faust hieb er ihr auf den Mund, die Lippen platzen auf, Blut lief über Kinn und Hals, und vor den Augen Irenes drehte sich das Zimmer, und die Decke zerfloß in gelbe Wellen. Von ganz weit hörte sie die Stimme Borokins, als säße sie in einem Karton voller Watte.
«Den Mund hältst du, du Hure«, sagte Borokin. Er hielt ihre Arme fest und schwang sich auf den Tisch, setzte sich auf ihre Beine und preßte sie damit völlig auf die Platte.»Wo ist Dimitri?«fragte er, als er sah, daß Irenes Benommenheit nachließ. Ihre Augen, voller Entsetzen, begannen zu flattern.
«Ich weiß es nicht«, sagte sie. Jedes Wort brannte auf den zerschlagenen Lippen. Borokin schüttelte den Kopf.
«Sei kein Held, Hürchen! Keinen Zweck hat es. «Mit beiden Händen riß er ihren Bademantel auf, zerfetzte das Nachthemd, das sie darunter trug, und holte aus der Tasche ein zusammengeklapptes Messer.
«Ich weiß es nicht!«schrie Irene. Grauen lähmte sie, ihr Körper versagte die geringste Gegenwehr.»Ich schwöre es. ich weiß es nicht!«
«Die Mongolen sind Meister im Fragen«, sagte Borokin kalt.»Meistens sind es die Männer, die Mut bis zu einem gewissen Grad beweisen. Kommt ihnen einmal eine Frau in die Hand, die verhört wird, so hat man folgende Methode: Man zieht sie aus, man fesselt sie, legt sie auf einen Tisch und nimmt ein scharfes Messer. Nach dem ersten Nein schneidet man die linke Brustwarze ab, nach dem zweiten Nein die rechte. Nach dem dritten Nein schlitzt man die linke Brust auf, nach dem vierten Nein die rechte. Bisher hat noch keine Frau über das erste Nein hinaus gelogen. «Borokin klappte sein Messer auf. Mit starrem Gesicht sah er hinunter auf den schönen weißen Körper Irenes und auf ihre festen, runden Brüste.»Wo ist Dimitri?«fragte er dumpf.
«Ich weiß es nicht!«schrie Irene. Ihr Mund klappte auf, Schweiß überzog plötzlich ihren Körper, sie starrte auf die blanke Messerklinge und fühlte, wie die Hand Borokins nach ihrer linken Brust tastete.»Bei Gott! Bei meiner Mutter! Bei allem, was es gibt, ich weiß es wirklich nicht! Er ist weggegangen, er ist geflüchtet. es hat Streit gegeben zwischen Wolfgang und seinem Vater, wegen Dimitri. Da ist er weg. Borokin. Borokin. glauben Sie mir.«
Dann wurde sie besinnungslos, als sie sah, wie sich das Messer auf ihre linke Brust senkte.
Nach einer halben Stunde verließ Borokin die Wohnung von Irene Brandes. Er hatte ihren leblosen Körper zur Couch getragen und mit einer Decke zugedeckt.
Nichts, dachte er, als er draußen im Treppenhaus stand. Dimitri ist geflüchtet. Wo auf der weiten Welt soll man jetzt einen Menschen suchen? Unmöglich ist's, auch die Genossen werden es einsehen müssen.
Doch wenn Moskau es nicht einsah?
Jurij Alexandrowitsch Borokin verließ fast traurig das Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr hinaus in die Nacht. Irgendwohin, planlos, nach Westen oder Osten, er kannte nicht die Richtung. Sie war auch gleichgültig. Denn wo immer er auch hinkam — überall blieb das Bewußtsein, daß sein Leben nichts mehr galt.
Bettina hatte viel Zeit, sich Algier, die weiße Stadt auf den roten Felsen, anzusehen. Sie stand oben an der Hafenstraße und sah hinunter auf das Gewimmel an den Molen, sie ging mit einem eingeborenen Führer durch die Kasbah, die alte Berberstadt, und sie fuhr hinaus zum Botanischen Garten, diesem Märchen aus 1001 blühenden Pflanzen.
Die Ölgesellschaft im Marseille hatte alles bestens vorbereitet. Der Flug verlief glatt. Die Paßkontrolle war nur eine Formsache. Von einem Beauftragten der Ölfirma wurde sie nach der Ankunft vom Maison-Blanche, dem Flugplatz Algiers, abgeholt. Sie erhielt ein schönes großes Zimmer im Hotel Oasis unter den Kolonnaden der Hafenstraße. Und dann kaufte sie erst einmal ein, um Dimitri mit Geschenken zu überraschen. Eine goldene Armkette kaufte sie, lang und mit dicken Gliedern; die wollte sie Dimitri um das Handgelenk schlingen und dann um ihren Arm und zu ihm sagen:»So, nun kannst du nicht mehr weglaufen! Du müßtest mich schon hinterherziehen. «Dann würde Dimitri sicher lachen, dieses herrliche, jungenhafte Lachen, das sie zuerst geliebt hatte, damals, an der nächtlichen Ölleitung von Tiflis, und er würde mitkommen zum nächsten Flugzeug und zurückfliegen nach Deutschland, wo seine neue Heimat war.
Vier Tage wartete Bettina im Hotel Oasis auf das Schiff >Liberte<. Der Hotelportier wollte es ihr sofort mitteilen, wenn das Einlaufen im Hafen gemeldet wurde. Drei Tage lang kam überhaupt kein Schiff. Die Kais und Molen waren wie ausgestorben. Nur die Bettler standen herum oder das Heer der Nichtstuer, das die afrikanischen Straßen und Märkte bevölkert.