Am vierten Tag rief sie endlich die Ölgesellschaft an, das Kontaktbüro in Algier, nahe der Präfektur. Dort saß ein verschlafener Mann, der ins Telefon gähnte, denn es war mittags 13 Uhr, eine Zeit, in der sich ein anständiger Mensch ausruhte und vor der Hitze verkroch.
«Die >Liberte<?«fragte der Verschlafene.»Wieso, Mademoiselle? Sie warten auf die >Liberte<?«
«Seit drei Tagen! Sie müßte längst in Algier sein. Ist etwas passiert? Haben Sie irgendwelche Nachricht?«Bettina wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Weniger die Hitze war es, die sie seufzen ließ, als die Angst um Dimitri.
«Die >Liberte< kommt nicht nach Algier«, antwortete der schläfrige Mensch.»Wissen Sie denn nicht… seit zwei Tagen haben wir in Algier einen Hafenarbeiterstreik. Alle französischen Schiffe werden umgeleitet nach Oran oder Bone. Die >Liberte< wird wahrscheinlich Oran angelaufen haben.«
«In Oran.«, stammelte Bettina.»Und ich warte hier in Algier. Was geschieht mit den Angestellten Ihrer Gesellschaft, die mit dem Schiff gekommen sind?«
«Sie kommen sofort an ihre Stellen.«
«Und die Bohringenieure?«
«Werden am nächsten Tag in die Wüste geflogen.«
Bettina legte auf. Ihr Kopf sank nach vorn gegen das Fenster. Unten, unter der Kolonnade, stand ein einbeiniger Bettler und sang leise vor sich hin. Ein Schwarm Fliegen umsurrte ihn.
In die Wüste.
Dimitri ist schon in der Wüste. und ich warte hier.
Mein Gott, hilf mir… ich werde in die Wüste müssen, um Dimitri zu holen.
Und plötzlich verließ sie alle Kraft, sie legte das Gesicht auf die Arme und weinte und wußte doch, daß sie, so schnell es möglich war, in die Sahara ziehen würde, in die unendlich Schweigende, wie der Araber sie nennt.
In die Einsamkeit aus Sand, Felsen, Salzseen, Geröll, glutender Sonne und brennendem Himmel.
«Und wenn ich auf Kamelen und Mauleseln quer durch die Wüste reite«, sagte Bettina zu sich, als sie sich wieder gefaßt hatte und vor dem großen Spiegel in der Brausekabine ihres Hotelzimmers in Algier stand,»ich werde Dimitri mitbringen! Eher komme ich nicht zurück nach Deutschland.«
Sie begann damit, daß sie das algerische Büro der Ölgesellschaft aufsuchte und nach langem Warten endlich einem Subdirektor gegenübersaß, der Grenadine-Limonade trank und stinkende schwarze Zigaretten rauchte.
«Ein ausgesprochenes Pech, Mademoiselle«, sagte er höflich, wie alle Franzosen höflich gegenüber einer schönen Frau sind, auch wenn sie — wie Bettina — im Augenblick störte, denn der Hafenarbeiterstreik von Algier lähmte einen sonst reibungslosen und für Algerien lebensnotwendigen Betrieb: den Schiffsverkehr zwischen Afrika und Frankreich. Es war zu erwarten, daß der wilde Streik auch auf die anderen Häfen übergriff, auf Oran und Bone vor allem. Das bedeutete, daß der Nachschub zu den Öl-Oasen gefährdet war.»Wer konnte das ahnen, als Sie von Marseille abflogen? Die >Liberte<? Ich muß einmal in der Liste nachsehen. «Der Subdirektor sah nach und nickte mehrmals, was Bettina durchaus nicht beruhigte.»In Bone. Dachte ich es mir doch. Nicht in Oran. Die >Liberte< hatte Material für die Stationen Fort Lallemand, Hassi el Gassi und Ain Tai-ba an Bord. Von Bone aus können die Dinge in die Wüste geflogen werden.«
«Und Dimitri auch.«, sagte Bettina.
«Ich nehme an, daß Monsieur Sotowskij ebenfalls schon in Ain Taiba eingetroffen ist. «Der Subdirektor war so höflich, sogar an eine große Karte zu treten und mit seinem gelben Nikotinfinger auf einen Flecken inmitten eines gelbgetönten Gebietes zu zeigen.
«Hier.«
«Mitten in der Wüste also?«
«Ja.«
«Veranlassen Sie bitte, Monsieur, daß auch ich dorthin fliegen kann«, sagte Bettina mit fester Stimme. Der Subdirektor ließ die Hand von der Karte fallen, als sei sie plötzlich aufgeglüht.
«Nach Ain Taiba?«
«Ja.«
«Unmöglich, Mademoiselle.«
«Warum?«
«Es gibt da viele Gründe. Die wichtigsten sind: Keine Frau, keine europäische Frau, darf in dieses Gebiet. Dort leben einige hundert wilde Männer, die wochen- oder monatelang keine Frau sehen. Sie verstehen, Mademoiselle? Ein Berberlöwe ist ein Schoßkätzchen gegen diese Kerle, wenn sie eine schöne Frau sehen. Zweitens sind die Ölgebiete sowieso Sperrzonen. Drittens muß — falls man eine Ausnahme macht — diese vom Ministerium in Paris eingeholt werden, und das ist, Sie sehen das ein, aussichtslos. Und viertens — warum schreiben Sie nicht Monsieur Sotowskij? Wenn er den Willen hat, doch wieder nach Europa zurückzukehren, wird er das auch tun, wenn er weiß, daß Sie in Bone auf ihn warten. Denn bis Bone kann ich Sie bringen lassen.«
«Sie kennen Dimitri nicht«, sagte Bettina leise und sah auf die große gelbe Karte. Einöde, Sand, glutende Hitze. Und irgendwo in der grenzenlosen, heißen Einsamkeit ein paar Bohrtürme, ein paar Baracken um einen Brunnen, ein paar armselige Palmen, eine weiße Fahnenstange mit der Trikolore — und Dimitri, der Heimatlose, der Mann, dem nichts mehr blieb als das Ende der Welt.»Er ist Russe. Was sind Worte bei ihm? Geschriebene Worte. Er wird sie hundertmal lesen, auf ihnen schlafen, sie küssen, Buchstaben nach Buchstaben. aber er wird bleiben, wo er ist. Nein. Ich muß ihn selbst sehen, ich muß ihn an der Hand nehmen und zu ihm sagen: >Komm, Dimitri, du großer Dummkopf, benimm dich nicht wie ein alter Bär, der nicht mehr tanzen kann und sich brummend verkriecht. Komm!< Und dann wird er mitgehen, nur dann!«
Der Subdirektor steckte sich eine neue Zigarette an. Sie roch wie versengte Matratzenfüllung. Was soll man sagen, dachte er, während er das Streichholz bis zum Ende in der Hand hielt und die Flamme bis zu seiner Fingerkuppe kriechen ließ, nur um Zeit zu gewinnen. Sie ist ein so hübsches Mädchen — muß es gerade ein Russe in Ain Taiba sein? So viele schöne, junge Männer gibt es.
«Es ist unmöglich«, wiederholte er. Ihm fiel nichts anderes ein.
«Dann gehe ich allein zu dieser Oase«, sagte Bettina fest. Der Subdirektor lächelte mild, wie über einen faden Witz, der aus Höflichkeit wohlwollend aufgenommen werden will.
«Ain Taiba liegt am Rande des Großen Östlichen Erg. Wenn Sie wissen, was das bedeutet. ein Meer aus Sand, aus glühendem weißem Sand, und der Wind darüber ist nicht erfrischend wie an der Küste, sondern ist ein Sandsturm, der Sie begräbt, der Sie erstickt. Staubfeiner Sand, der selbst zwischen die zusammengepreßten Lippen in den Mund dringt.«
«Ich bin aus Rußland herausgekommen, ich werde auch in die Wüste hineinkommen!«rief Bettina und sprang auf. Der Subdirektor sah sie bewundernd an, aber das änderte nichts daran, was er jetzt sagen mußte.
«Ich werde Sie festsetzen lassen müssen, um solchen Wahnsinn zu vereiteln, Mademoiselle«, sagte er fast bedauernd.»Die Suchaktionen, die Sie dann bestimmt auslösen, würden den Staat Hunderttausende kosten! Ganz davon abgesehen, daß Sie keinerlei Möglichkeiten hätten, bis Ain Taiba zu kommen.«
«Mit der Eingeborenenkarawane.«
«Nur bis Fort Lallemand.«
«Das ist weit genug.«
«Luftlinie bis zur Oase dreihundertfünfundsiebzig Kilometer. «Der Subdirektor lächelte wieder.»Das hört sich winzig an. Aber dreihundertfünfundsiebzig Kilometer durch Wüste. Ohne eine Wasserstelle zwischendurch. Bei fünfzig Grad Hitze in der Sonne, denn Schatten gibt's da nicht. Sehen Sie doch ein, daß es Wahnsinn ist, Mademoiselle. Zwingen Sie mich nicht, Sie in eine Art Schutzhaft nehmen zu lassen oder Sie nach Europa abzuschieben.«
«Ich sehe es ein«, sagte Bettina und nickte. Aber sie blickte dabei den Subdirektor nicht an, denn es wäre möglich gewesen, daß er in ihren Augen die Lüge erkennen konnte.»Wenn ich von Bone aus schreiben könnte. wenn Sie mich nach Bone bringen könnten. Ich will es mit dem Brief versuchen.«
Gegen Abend flog Bettina mit einer Privatmaschine von Maison-Blanche nach Bone. Die algerische Vertretung hatte noch einmal in Marseille nachgefragt, ob es tatsächlich notwendig sei, diese Privataffäre eines jungen Mädchens mit einem Russen in französischen Diensten derart bevorzugt zu behandeln. Die Direktion in Marseille sagte ja, was in Algier niemand verstand, aber respektierte.»Ich finde«, sagte der Subdirektor zu seinem Sekretär,»Galanterie ist schön. Aber sie kann auch zum Blödsinn werden. Doch wir kennen ja Monsieur Janeune, den Direktor. Dreiundsechzig Jahre alt, und wenn er ein nacktes Mädchenknie sieht, bekommt er eine Hitzewelle und bläst die Nüstern wie ein im Hafer stehender Hengst. Also gut, bringen wir das Mädchen nach Bone! Aber jede Verantwortung lehne ich ab.«