Es kann sein.
Kritisch — in Bonn wußte man das zunächst nicht, denn niemand kannte ihn — wurde es, als statt Borokin ein neues Mitglied der sowjetischen Botschaft am Rhein eintraf: Ein gewisser Safon Kusma-jewitsch Jassenskij. Ein schiefnasiger Mensch mit braunen Nikotinfingern, unhöflich und grob, und jeder wunderte sich, daß gerade so ein Individuum die Kulturabteilung übernahm.
Und nun geschah etwas in Bonn, das typisch ist: Der MAD war ratlos. Das Amt für Verfassungsschutz dagegen war von der Harmlosigkeit Jassenskijs überzeugt. Der Bundesnachrichtendienst atmete auf. Daß Borokin durch diesen ungebildeten Menschen ersetzt wurde, schien alles leichter zu machen. Nur im Amt Gehlen bekam man helle Augen — und schwieg.
«Es beginnt interessant zu werden«, sagte der Intimus des Generals, ein Oberst aus dem alten Amt Canaris.»Sieh an, der gute Jas-senskij! Man kann jetzt Überraschungen erwarten.«
Schon am Abend nach den Eintreffen Jassenskijs in Rolandseck wurden die V-Männer informiert und begann die Organisation der Exilrussen in München und Frankfurt zu arbeiten.
Bis in die Botschaft reichten die geheimen Fäden… wie das unterirdische Wurzelwerk einer Pilzknolle war es.
Oberst Jassenskij tat keinen Schritt mehr, den nicht der General in München-Pullach wußte. -Aber er war auch der einzige, der informiert war. -
Es gibt Menschen — und davon eine ganze Menge —, die behaupten, sie liebten die Sahara.
Sie haben auch allerhand Erklärungen für diese Liebe, ebenso wie jemand stundenlang reden und schwärmen kann, wenn man ihn fragt: Warum lieben Sie Sibirien? Dabei ist diese Liebe auf den ersten Blick genauso widersinnig wie die Liebe zur Wüste, denkt man an die unendlich glühenden Sanddünen und den bleiernen, gnadenlosen Himmel hier — oder die eisigen Schneestürme und die ewigen, unerforschten Wälder, in denen Bären, Wölfe und Tiger hausen, dort. Und doch, irgendwie kann man diese seltsamen Menschen auch verstehen, die da von der Lena oder dem Jenisseij schwärmen oder von den Salzseen im Hochland der Schotts oder dem geheimnisvollen Hoggar-Gebirge im Inneren der Sahara oder der Wüstenstadt Tamanrasset, wo die Männer schwarz verschleiert gehen und das Recht der Frauen im Stamme der Tuaregs mehr gilt als das der Männer. Für Afrika fast unvorstellbar.
Am herrlichsten aber ist der Nachthimmel über der Wüste. Ein mit Millionen glitzernder Brillanten bestickter Samt liegt über der ewig Schweigenden, und der Mensch, irgendwo in einem Zelt zwischen zwei Sanddünen, umgeben von seinen Kamelen und ganz in der Hand Gottes, begreift die Unendlichkeit und seine eigene Winzigkeit. Und er beginnt, sein Leben zu lieben, denn er erkennt die Gnade, atmen zu dürfen.
Das ist es, was die Menschen immer wieder ergreift, ob in der Sahara oder irgendwo im Urwald, in der Taiga Sibiriens: Der Himmel und das Grandiose der Natur und die Gegenwart Gottes, ohne die man ein Nichts wäre in dieser Fülle von Schweigen, von urweltli-cher Einsamkeit.
Es zeigte sich, daß Achmed Arbadja richtig handelte, indem er nur nachts fuhr und am Tage sein Zelt um Jeep und Luftmatratzen aufbaute, das Zelt mit Sand bewarf und so zu einem unerkennbaren Hügel werden ließ, denn als am Morgen im Gästehaus die Demoiselle Wolter fehlte, fragte man nicht weiter, wo sie geblieben war, sondern alarmierte die Suchstaffel. Drei Hubschrauber stiegen auf und flogen die Route nach Fort Lallemand ab. Aber da sahen sie nichts. Und die Kamelkarawanen, die sie ausmachten, und vor denen sie landeten, führten zwar Frauen mit sich, aber es waren Ou-led-Nails-Mädchen, junge Weiber aus dem Stamm, der in Nordafrika fast ausschließlich die Dirnen stellt und die — nach einer gründlichen Ausbildung in den Liebeskünsten — mit Karawanen zu den einzelnen Oasen transportiert werden, um den Wüstensöhnen die Einsamkeit zu versüßen. Denn das Weib ist geboren für den Mann, sagt Allah durch den Mund Mohammeds. Eine Lehre, die kein Mann verneinen wird.
«Da haben wir es!«schrie der Subdirektor in Algier, als man ihn anrief und mitteilte, Bettina Wolter sei verschwunden.»Sie wollte in die Wüste! Diese Irre! Aber da sitzen in Marseille so alte Lustknaben, die mit den Ohren wackeln, wenn sie gespannte Blusen sehen! Nun haben wir die Schweinerei! Und die algerische Regierung wird wieder mit uns herummeckern und uns vorwerfen, wir könnten unsere Leute nicht unter Kontrolle halten. Scheiße, meine Herren!«
Die Hubschrauber suchten weiter. Unterdessen schliefen Achmed und Bettina in ihrem getarnten Zelt. Und wenn auch um sie herum die Hitze eines Brutofens herrschte — sie schliefen vor Erschöpfung und vor allem durch ein leichtes Mittel, das Achmed aus einer grünen Knolle gewann und das eine wundervolle Müdigkeit erzeugte. Wie betäubt war Bettina nach ein paar Tropfen dieses Saftes. Sobald dann die Nacht kam, fühlten sie sich wieder munter und erfrischt. Es war, als sei ihr Leben völlig verändert, als sei sie dazu geboren, nur nachts zu leben.
Drei Nächte waren sie unterwegs, über eine Piste, die auf keiner Landkarte stand und die Achmed Arbadja von seiner Tätigkeit als
Rebell her kannte; eine jener Wüstenpisten, über die die Berber in den Rücken der französischen Truppen gelangten und wie höllische Gespenster plötzlich über sie hereinbrachen.
Doch dann bekam Bettina Fieber. Ganz harmlos fing es an, mit einem Druck im Nacken, mit ständigem Gähnen und später mit leichten Schmerzen in den Gliedern. Bettina verschwieg diese Anzeichen. Es ist nichts, sagte sie sich vor. Es ist ein Muskelkater. Die Nerven reagieren jetzt auf das wahnwitzige Abenteuer. Morgen ist alles vorbei. Morgen hat sich der Körper an die anderen Verhältnisse gewöhnt.
Aber dieser Morgen war anders.
Bettina hatte einen glühenden Kopf, die Kehle brannte, ihre Arme und Beine konnte sie kaum bewegen, und der Himmel drehte sich um die Wüste, und die goldenen Sanddünen wurden zu Wolken, die hoch am Firmament dahinzogen wie riesige beladene Schiffe.
Achmed Arbadja hob sie aus dem Jeep und legte sie auf einen Teppich in den Sand. Dann baute er sein Zelt um alles auf, bewarf es wieder mit Sand, und kümmerte sich dann um Bettina, die in einer für sie angenehmen Schwäche schwamm, so leicht wie eine Feder auf einem Bach, und so fühlte sie sich auch, weggetragen im leichten Schaukeln.
Arbadja gab Bettina zu trinken. Aus der Autoapotheke hatte er Tabletten gegen Fieber geholt, widerlich bittere, sicherlich Chinin. Er zwang sie, diese Tabletten zu schlucken, und dann tat er etwas, was Bettina fast um den Verstand brachte. In dicke Wolldecken wickelte er sie ein, so daß sie sich nicht rühren konnte, und so lag sie unter der dünnen Zeltleinwand wie in einem Backofen, ihr Körper löste sich in Schweiß auf, keinen Atem bekam sie mehr, das Herz jagte, und Arbadja saß neben ihrem Kopf und überschüttete ihn mit Wasser, wenn sie glaubte, nun müsse er endgültig auseinanderspringen.
«Luft!«röchelte sie einmal.»Achmed, du bringst mich um! Nimm die Decken weg. die Decken. ich zerplatze!«
«Wir treiben das Fieber hinaus, Mademoiselle«, sagte Achmed ganz ruhig.»Haben Sie keine Angst. Sagten Sie nicht, Sie hätten keine Angst vor mir?«
«So ist es, Achmed.«
Bettina schloß die Augen. Ganz ruhig wurde sie auf einmal, der Druck fiel von ihr ab, die Hitze spürte sie nicht mehr, der Hals brannte nicht, und der Kopf zersprang nicht.
Sie wurde besinnungslos und glitt in das Vergessen mit dem Gedanken: Nun wird es besser… ich habe keine Angst vor Achmed Arbadja.
Zwei Tage und Nächte saß Arbadja neben Bettina, kühlte ihre Stirn, flößte Wasser zwischen die verkrampften Lippen, rieb ihre Brust mit Öl ein und wickelte sie wieder in die höllischen Decken. Zwei Tage und Nächte war Bettina ohne Besinnung und phantasierte. Sie glühte und war eiskalt, und der Wechsel wurde immer schneller und die Miene Achmeds immer ernster. Dann, in der dritten Nacht, lag sie ruhig und atmete nicht mehr stoßweise, sondern langgezogen und tief. Aus der Ohnmacht war richtiger Schlaf geworden… der Schlaf der zur Gesundheit führte.