Dimitri kümmerte es nicht. Er hatte noch etwas zu essen, ein paar Büchsen, die er kalt hinunterschlang, denn ein offenes Feuer war verboten. Man hätte ihn erschlagen, wenn er es getan hätte. In der Nacht aber saß er wieder auf dem Garagendach und starrte in die Wüste.
Und dann, in der dritten Nacht, sah er weit hinten über den Sanddünen eine kleine Staubwolke gegen den Nachthimmel steigen, aus einer Richtung, die genau entgegengesetzt der Route nach Fort Lal-lemand war. Eine Staubwolke, die größer und größer wurde, als schabe jemand durch den Sand und werfe ihn dann gegen den Himmel.
Wanduscha. dachte Dimitri und kroch an den Rand des großen Wellblechdaches. Ist sie es? Und dann richtete er sich auf, stand auf dem Dach und winkte mit beiden Armen, und der Mond schien auf ihn und hob ihn gegen den Nachthimmel ab, und die Staubwolke kam näher, und es sah aus, als hüpfe ein großer schwarzer Floh durch die Wüste.
Dimitri kletterte von dem Dach und rannte um den letzten Bohrturm herum. Eine Sanddüne versperrte ihm den Blick, aber er hörte schon das Brummen des Motors.
«Wanduscha!«schrie er.»Wanduscha!«Und dann lief er durch den knietiefen Sand, stolpernd und ächzend wie ein Verdurstender, mit ausgebreiteten Armen und wie im Fieber glänzenden Augen, und ganz sicher war er sich, daß dort aus dieser Staubwolke Bettina auftauchen und daß sein Leben wieder schön werden würde.
Aus den Sanddünen tanzte der kleine graue, mit gelbem Sand bestäubte Wagen. Die Staubwolke, die ihn einhüllte, verhinderte jede Sicht, aber Dimitri taumelte mit flatternden Armen weiter, und seine Schreie» Wanduscha! Wanduscha!«prallten nach kurzer Zeit gegen eine Sandwand, die ihn einhüllte, ihm den Atem nahm, seine Mundhöhle mit Tausenden kleinen, harten Körnern füllte und ihn umwarf. Er kniete im Sand, mit erhobenen Armen, als bete er die Sterne an, die im Staubnebel versunken waren.
«Himmel! Wer ist denn dieser Idiot?«schrie eine Stimme auf französisch. Der Jeep bremste einen Meter vor dem knienden, vom wirbelnden Sand blinden Dimitri, und die Wolke sank in sich zusammen und überfiel den ächzenden Menschen wie ein Wasserguß.»Den hätte ich bald überfahren!«schrie die Stimme wieder.»Was läuft so ein Vollidiot auch in der Nacht herum! He! Aufstehen! Wohl besoffen, was?«
Dimitri Sotowskij öffnete langsam die sandverklebten Augen. Seine Kehle war ausgedörrt, sein Körper schien wasserlos, wie eine verdorrte Tamariske war er, ein toter Baum in der Wüste.
«Wanduscha…«, stammelte er und starrte um sich, als erkenne er seine Umwelt nicht mehr.
«Was sagt das betrunkene Schwein?«rief die Stimme wieder.»Mann, steh auf!«
Aus dem Jeep kletterten vier Männer in Uniform. Ein Offizier war dabei, der nun zu Dimitri ging und ihn aus dem Sand hochriß. Wie einen nassen Hund schleifte er ihn zum Jeep und lehnte ihn dagegen.
Dimitri sah um sich. Vier Männer. Uniformen. Soldaten. Er begriff es zunächst nicht.»Wo ist Wanduscha?«fragte er. Während er sprach, spuckte er Sand aus. Seine Augen wurden rot; der Staub brannte wie Pfeffer.»Habt ihr sie nicht mitgebracht?«
«Aha! Das ist ja der Russe!«Der junge Leutnant betrachtete Dimitri mit Interesse. Er war aus Fort Lallemand abkommandiert worden, Patrouille bis zur Oase Ain Taiba zu fahren und alle Fahrzeuge auf der Route zu kontrollieren.
Aus Bone war die verrückte Meldung gekommen, daß ein Mädchen allein quer durch die Wüste fahren würde, um aus Ain Taiba ihren Bräutigam, einen russischen Ingenieur, wegzuholen. Zuerst hatte man in Fort Lallemand darüber gelacht und Witze darüber gerissen, aber als es hieß, daß der Wagen des Mädchens nirgendwo zu sehen sei und alle Hubschrauber ohne Ergebnis zurückkamen, wurde es ernst, und von allen Militärstationen wurden Patrouillen ausgeschickt, die Wüste rund um Ain Taiba zu überwachen.
«Ihretwegen haben wir vielleicht einen Zirkus hier!«sagte der junge Leutnant zu Dimitri. Ein Soldat hatte ihm zu trinken gegeben, und nun lehnte Dimitri am Wagen und verfiel sichtlich in Hoffnungslosigkeit.
«Wo ist Wanduscha?«fragte er und starrte auf die Sanddünen. Der Himmel war wieder klar, die Sterne glitzerten wie auf blauschwarzen Samt gestickt. Und es war wieder kalt.
«Wenn wir das wüßten, lägen wir jetzt im Bett. «Der junge Leutnant steckte sich eine Zigarette an und bot seine Packung Dimitri an. Dieser schüttelte den Kopf.»Seit ein paar Tagen ist sie verschwunden.«
«Verschwunden?«stammelte Dimitri mit hohlen Augen.
«Genau gesagt: Wir haben sie nie gesehen. Sie ist aus Bone weg. Womit, ob allein oder mit Führer, in welche Richtung, das alles wissen wir nicht. Sicher ist nur, daß sie nach Ain Taiba will.«
«Zu mir«, sagte Dimitri dumpf.»Freunde, zu mir!«
«Über die normalen Routen ist sie nicht gefahren, das ist auch sicher. Sie muß also einen der Karawanenwege der Nomaden gefahren oder geritten sein, und das ist absoluter Wahnsinn.«
«Wir müssen sie suchen!«schrie Dimitri. Erst jetzt kam ihm voll zum Bewußtsein, in welcher Gefahr sich Bettina befand.»Brüder, wir müssen sie suchen! Sie verdurstet! Der Sand weht sie zu! Die Sonne dörrt sie aus! Freunde, sucht sie!«
«Was meinst du, was wir seit Tagen tun?«Der junge Leutnant spuckte in den Sand, warf die Zigarette weg und zertrat sie mit den Stiefelspitzen.»Sag mal, Russki, was hast du dir da bloß für ein Weibsstück angelacht? Das muß ja eine Furie sein.«
«Ein Engel ist's, Freunde. Ein wahrer Engel«, sagte Dimitri leise.»Wenn ich wüßte, wo sie jetzt ist, ich liefe ihr zu Fuß entgegen.«
Der Leutnant wandte sich ab, stieg in den Jeep und winkte den anderen Soldaten.»Der ist genauso blöd. Muß in der Familie liegen. Los, Jungens, weiter! Zurück nach Hassi el Gassi! Von dort muß sie kommen. Wenn sie in den Erg geraten ist, sehen wir sie sowieso nie wieder. Aber das sag ich dir, Russki«, der Leutnant beugte sich zu Dimitri vor, der starr hinaus in die Wüste sah,»wenn wir deine Mamuschka oder wie du sie nennst, in die Finger bekommen, hauen wir ihr erst den süßen kleinen Hintern voll. Sie hat's verdient.«
Dimitri schwieg. Er sah dem ratternden, tanzenden kleinen Jeep nach, der wieder zur Straße wendete und neue Staubwolken über ihn schüttete. Wieder füllte sich sein Mund mit Sand, jeder Atemzug knirschte, und als die Wolke sich verzogen hatte, war er wieder allein zwischen den Sanddünen, unter dem kalten nächtlichen Wüstenhimmel, und er kam sich so einsam vor wie nie zuvor.
Wanduscha, dachte er. Wenn ich dir helfen könnte, wenn ich dir wirklich entgegenlaufen könnte… mein Fehler war's, einfach wegzugehen. Meine wilde grusinische Art hatte ich nicht in der Gewalt, und nun mußt du büßen für mich. O Wanduscha, ich bin ein Lump gewesen!
Und dann stand er im Sand zwischen den Dünen, ein langer, dürrer Schatten, und schluchzte. Und er hatte unsagbares Heimweh nach Tiflis und den Weinhängen rund um die Stadt. Heimweh nach den blühenden Aprikosenbäumen und den wilden Kirschen. Heimweh nach Rußland… es ist stets das größte Gefühl eines Russen in der
Fremde. -
Bis heute weiß keiner, welchen Weg Achmed Arbadja gefahren war. Er selbst schwieg darüber, Bettina konnte es nicht erklären. Für sie sah die Wüste in allen Himmelsrichtungen gleich aus. Sand, Himmel, flimmernde Hitze, Staubwolken, das Gefühl unendlicher Verlassenheit. Nur ein Mensch wie Arbadja hatte Namen für Sandhügel, die keinem anderen auffallen. Nur für ihn war ein gebleichtes Kamelgerippe, ein ausgetrocknetes Wadi, ein unbekannter Salzsee, von Wanderdünen zugewehte Bäume und Büsche ein Zeichen am Wege. Wie das Innere seiner Tasche kannte er die Sahara.
Dimitri lag auf seinem Bett und schlief, als Arbadja und Bettina in Ain Taiba eintrafen. Nicht von Fort Lallemand, wie alle vermuteten, sondern von Süden her, aus dem Erg heraus, von der geheimnisvollen Karawanenstraße, die von Ghadames bis nach In Sa-lah führt und die noch kein Europäer entdeckt, geschweige denn entlanggezogen war.