Man sieht, es waren Ansichten, die so fremdartig waren wie etwa die Liebe der Tataren zu saurer Eselsmilch.»Man wird noch viel an ihm erziehen müssen, lieber Wolter«, sagte der die Untersuchung leitende Hauptmann aus Bonn zu Wolfgang Wolter.»Er ist noch weltfremd. Man sollte nicht meinen, daß in einer so großen Stadt wie Tiflis solch eine politische Kurzsichtigkeit vorherrscht.«
«Wir haben Zeit«, antwortete Wolter ausweichend. Plötzlich sah er eine Kluft zwischen sich und seinen Kameraden aus Bonn. Plötzlich verstand er Dimitri und wunderte sich, daß die anderen ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.
Frieden! Ruhe in der Welt! Laßt jeden leben, daß er satt und zufrieden ist. Seid Brüder. Alle!
Ist das verwerflich? Ist das kommunistisch?
Es ist nur undurchführbar… aber das ist eine Tragödie der Menschheit für sich.
Irene Brandes hatte man ins Allgäu in ein Sanatorium gebracht. Dort heilte man ihren tiefen seelischen Schock aus, den die letzte Begegnung mit Borokin hinterlassen hatte. Jeden zweiten Tag schrieb sie sehnsuchtsvolle Briefe an Wolfgang.
«Mir geht es immer besser. Wann holst Du mich zurück? Keine Nacht vergeht, ohne einen Traum von Dir. Ich liebe Dich. Ich vermisse Deine Zärtlichkeit. Nie habe ich geglaubt, daß ich einmal so lieben könnte.«
«Noch drei Wochen muß sie bleiben«, sagte Wolfgang nach dem letzten Brief Irenes.»Ich habe mich beim Chefarzt erkundigt.«
«Und wenn sie wiederkommt, heiraten wir alle!«rief Dimitri.
«Hast du's so eilig?«lachte Wolter.
«Er nicht, aber ich«, sagte Bettina und umarmte Dimitri.»Oder soll ich ihn wieder aus irgendeiner Wüste zurückholen?«
Dann fuhr Wolfgang fort zur Zonengrenze, und Dimitri bekam am nächsten Tag einen Anruf aus Frankfurt.
«Für dich«, sagte Agnes Wolter, die das Gespräch angenommen hatte.»Es klingt, als ob ein Russe deutsch spricht.«
Nachdenklich, mit harten Augen und zusammengepreßten Lippen nahm Dimitri den Hörer ans Ohr. Die Blicke Agnes', Karl Wol-ters und Bettinas verfolgten sein Mienenspiel.
«Dimitri Sergejewitsch«, sagte er laut. Und dann schwieg er, denn jemand sprach russisch zu ihm und erzählte ihm etwas, das fast nicht zu glauben war.»Wer ist da?«fragte Dimitri dazwischen, aber die Stimme antwortete nur:
«Seien Sie nicht neugierig, Brüderchen. Glauben Sie uns, daß wir unser Vaterland lieben wie Sie. Und handeln Sie. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Langsam legte Dimitri den Hörer zurück. Karl Wolter trat einen Schritt auf ihn zu.
«Wer hat angerufen?«
«Ich weiß es nicht. Es müssen russische Emigranten sein, die Mittelsmänner in der Botschaft haben. «Dimitri wischte sich über das Gesicht, und damit löste sich seine Erstarrung.»Wir müssen Bonn anrufen!«rief er erregt.»Die Dienststelle Wolfgangs. Er ist in Gefahr. Man will ihn entführen. Ein Oberst Jassenskij hat einen ganz sicheren Plan ausgearbeitet. Er muß sofort gewarnt werden. «Er drehte sich zu Bettina, die ihn aus weiten Augen ansah.»Wie lange fahren wir bis Fladungen?«
«Fladungen? Wo liegt denn das?«rief Wolter und nahm den Hörer ab.
«Südöstlich von Fulda, an der Wasserkuppe«, sagte der Anrufer.
«Himmel! Das ist eine lange Fahrt!«
«Was will man mit Wolfgang machen?«stammelte Agnes und begann zu weinen.»Hört das denn nie auf? Was ist aus unserer Welt geworden.«
«Entführen will man ihn. Nach drüben!«Dimitri rang die Hände.»Und wenn wir ihn nicht warnen können, gelingt es auch. Oh, ihr kennt nicht die GRU. Dem Teufel sägen sie ein Horn ab, wenn es verlangt wird!«
Es wurde ein turbulenter Tag.
Das Ministerium in Bonn bedankte sich höflich für die Information und beendete das Gespräch mit einem kurzen, militärischen» Ende«. Aber dann summte der Draht zur Zonengrenze, wurden Befehle wei-tergegeben, zirpte es in den kleinen Kurzwellensendern bis zu den Posten an den Stacheldrahtzäunen. Von Fulda fuhr ein Mannschaftswagen zur Wasserkuppe und von dort in der Nacht bis Fladungen. In der Turnhalle der Schule wurden die Soldaten wieder zu Zivilisten verwandelt, und zwar in Waldarbeiter mit durchschwitzten, nach Moos und Harz riechenden Anzügen. Auf Bauernwagen fuhren sie in den Wald, und dort verschwanden sie spurlos, nach einem Aufmarschplan, der in aller Eile von Spezialisten des MAD ausgearbeitet worden war.
Und auch die Familie Wolter traf in Fladungen ein. Ohne Unterbrechung waren Karl Wolter und Bettina gefahren. Als sie ankamen und im >Hessischen Hof<, einem Landhotel, abstiegen, kam ihnen Wolfgang entgegen.
«Wenn das stimmt, Dimitri«, sagte er und legte den Arm um So-towskijs Schulter,»wenn es nicht bloß ein blinder Alarm ist, um Unruhe zu stiften und zu sehen, wie wir reagieren, hast du uns einen Dienst erwiesen, den wir dir gar nicht genug danken können.«
«Das ist ein Irrtum«, sagte Dimitri und sah Wolfgang dabei ernst an.»Ich will keinen Dienst erweisen. Mich kümmert nicht die Politik. Ich will nur dich retten. weil du mein Bruder geworden bist. Es geht schlicht um dein Leben, um weiter nichts.«
Die Experten des MAD dachten allerdings anders, und sie taten gut daran. Unbemerkt von allen Einwohnern, begann an der Zonengrenze ein gefährliches, ein bitterernstes Theater. Darsteller waren Wolfgang Wolter und seine beiden Feldwebel mit ihrem kleinen grünen Wagen. Den Chor bildeten die als Waldarbeiter verkleideten Soldaten. Und die Gegenspieler saßen irgendwo entlang des Todesstreifens im Wald. Man hatte sie noch nicht entdeckt, denn alle Streifen wurden eingestellt, um die Leute Jassenskijs in völlige Sicherheit zu wiegen.
Als sei er wirklich ahnungslos, fuhr Wolter mit seinen Begleitern seine vorgeschriebene Strecke ab. Einige Kontaktmänner gaben kurze Funkberichte zu dem Bauernhaus auf der anderen Seite, wo Jas-senskij ungeduldig der großen Stunde entgegenfieberte.
«Alles in Ordnung, Genosse Oberst«, sagte der Abschnittskommandeur der Grenztruppe, ein sächsischer Hauptmann.
«Wir können uns gratulieren.«
In der Nacht stand Jassenskij selbst im Todesstreifen und überwachte das Herausziehen der Stacheldrahtpfähle. Bis zum vordersten Wachturm war ein kleiner geschlossener Lastwagen gefahren. Mit ihm sollten Wolter und seine beiden Feldwebel sofort nach Meiningen gebracht werden.
«Es kann nicht mißlingen«, sagte Jassenskij immer wieder.»Sie wissen nichts von der minenlosen Strecke. Wir werden den Kapitalisten ein Wunder vormachen.«
«Eene scheene Sache, Genosse Oberst. Die wär'n gucken.«, sagte der sächsische Hauptmann. Er war stolz, mit dieser Aufgabe betraut worden zu sein.
Ab Mitternacht rollte das Schauspiel wie in einer vorzüglichen Inszenierung ab.
Oberleutnant Wolter kam in das Gebiet, von dem aus er entführt werden sollte. Und siehe da… zur größten Verblüffung der MAD-Männer, die im Wald in Deckung lagen, saßen plötzlich vier scheinbar harmlose Zivilisten neben der Straße, die durch den Wald entlang der Zonengrenze führte. Woher sie plötzlich kamen, hatte keiner gesehen. Wie müde, verirrte Wanderer saßen sie auf einem Baumstamm, aßen hartgekochte Eier und tranken Tee aus einer Thermosflasche.
«Von den Waffen wird nur im Notwehrfalle Gebrauch gemacht!«hatte der wichtigste Befehl geheißen, aber Wolfgang Wolter umkrampfte doch den Griff seiner Pistole in der Tasche, als sich der Wagen den letzten Metern näherte.
Es war eine normale Nacht von durchschnittlicher Helligkeit, schon etwas kühl und herbstlich. Die Wachtürme auf der Zonenseite ragten dunkel in den Himmel, als seien sie unbewohnt. Auch der Turm, unter dem Oberst Jassenskij wartete, lag in völligem Schweigen.