Über ihren Kopf hinweg sah Wolter mit großen Augen Dimitri an. Er erwiderte seinen Blick, und Dimitri wußte, was geschehen war.
«Nun bist du ganz hier, Söhnchen«, sagte Wolter auf russisch.»Die Welt hört wenige Werst östlich von hier für uns auf.«
Dimitri nickte. Um seine schönen dunklen Augen legte sich ein Schleier.»Ich kann nie mehr zurück?«fragte er leise.
«Nie mehr, Dimitri.«
«Sie haben mich verstoßen?«
«Ein Staatenloser bist du. Man wird dir eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland geben, du darfst hier arbeiten, du darfst hier Steuern zahlen, sogar heiraten darfst du und Kinder bekommen — aber du wirst nie mehr ein Vaterland haben.«
«Ich habe es im Herzen, Väterchen«, sagte Dimitri heiser.»Im Herzen stirbt Rußland nie.«
Karl Wolter nickte. Er empfand es auch so. Ein merkwürdiges Gefühl war es, nicht zu erklären und nicht zu verstehen für den, der nicht sein Leben geführt hatte: Er stand auf dem Boden seiner Heimat, und er träumte von den Weinhängen in Tiflis. Er war ein doppelter Mensch, und er konnte sich mit sich selbst unterhalten: Hör mal, Karl Wolter, sagte dann Kolka Iwanowitsch. Und Karl Wolter antwortete: Ich höre, Kolka Iwanowitsch.
Wer von uns kann so etwas?
Und Wolter begriff plötzlich, daß dies ein Leben war, das man wunderbar nennen konnte.
Kurz vor Weihnachten war die große Hochzeit im Hause Wolter. Dimitri und Bettina und Wolfgang und Irene unterschrieben vor dem Standesbeamten die Heiratsurkunde und knieten nebeneinander in der Kirche. Für Dimitri war es ein besonders anstrengender Tag, denn er heiratete gleich dreimaclass="underline" Nachdem sie die Kirche verlassen und in einer Hochzeitskutsche mit Schimmeln davor nach Hause gefahren waren, wartete im Hause Wolter ein emigrierter Pope, den die Vereinigung russischer Emigranten in Frankfurt zu dieser Feierlichkeit nach Göttingen geschickt hatte.
Und wieder knieten sie auf zwei Kissen nieder, und der Küchentisch war zum Altar geworden, der Pope sang mit seiner tiefen Baßstimme und Wolfgang und Irene hielten nach dem alten orthodoxen Ritus zwei kleine goldene Kronen über die gesenkten Köpfe von Dimitri und Bettina, während der Pope ihre Hände ineinander legte.
Dimitri schloß die Augen, und auch Wolter, der gute alte Kolka, träumte.
Die alte Klosterkirche bei Tiflis. Die Ikonostase mit den uralten Ikonen und Heiligenfiguren, fast farblos an den Füßen von den Millionen Küssen der Gläubigen in fünf Jahrhunderten. Im Hintergrund singt der Chor, eine Riesenorgel aus menschlichen Stimmen. Die Kerzen flackern, nach Wachs riecht es und nach Erde und Moos; ein Geruch, der aus den Kleidern der Bauern und Bäuerinnen strömt, ein Geruch von der Ewigkeit russischer Erde.
Und der Pope segnet das Brot, und jeder weiß, daß Gott die Sonne und den Regen, den Wind und die Wolken schickt, und es blühen, reifen und Frucht tragen läßt, unabhängig von Fünfjahresplänen und Sollbestimmungen. Der Mensch vergeht, aber die Erde Rußlands wird bleiben, ein fruchtbarer Schoß bis zur Unendlichkeit.
Gott segne es, das Mütterchen Rußland.
Es war eine feierliche Trauung auf den beiden Sofakissen, vor dem mit einer Brokatdecke und mit drei Ikonen geschmückten Küchentisch.
Viel hatte sich in diesen Wochen geändert. Dimitri hatte eine Stelle bei einer deutschen Erdölgesellschaft in Niedersachsen bekommen. Bettina hatte bei der DBOA gekündigt, und es ist ihr nicht schwergefallen, was sie sehr verwunderte, denn nie hatte sie geglaubt, daß sie im Leben etwas anderes sein könnte als Stewardeß und in der ganzen Welt zu Hause. Nun hatte sie Dimitri, und ihre Welt war zusammengeschrumpft zu einer kleinen Dreizimmerwohnung, aber sie war so glücklich, als habe sie das Paradies gefunden.
«Nun ist Ruhe!«sagte Karl Wolter, als die beiden Paare am nächsten Tag das Haus verlassen hatten und auf die Hochzeitsreise gegangen waren. Wolfgang und Irene nach Rom, Dimitri und Bettina in die Dolomiten, wo sie in einem ganz kleinen Bergdorf wohnten, nahe den Zinnen, die aussehen wie ein riesiger Kamm, der den Himmel kämmt und die Wolken frisiert.»Nun ist endlich Ruhe, Agnes.«
«Wir haben sie verdient, Karl. «Agnes Wolter sah über den Rand der Brille auf ihren Mann. Sie stopfte an einer Küchenschürze, und er saß unter der Stehlampe und las die Zeitung. Das sind wir nun, dachte sie. Zwei alte Menschen, die ihre beste Zeit mit Warten vertan haben. Niemand gibt uns die Jahre wieder. nun stopfe ich, und er liest die Zeitung, und in der Ecke brummelt der Ölofen. Gleich wird er aufstehen, in die Küche gehen und sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holen. Dann kommen die Nachrichten im Fernsehen und dann ein Bericht über die alpinen Skimeisterschaften, die er sich ansehen wird, obgleich er gar keine Ahnung vom Skilaufen hat. Und so werden die Tage und die Abende hingehen, und man wird weiter immer älter und ist doch glücklich, daß man beisammensitzen kann, an einem Tisch, beim Bier, beim Stopfen, beim Fernsehen. Ein gemeinsames Leben, das so lange Zeit brauchte, bis es gemeinsam wurde.
«Bist du nun glücklich?«fragte sie leise. Wolter hob den Kopf und lächelte.
«Sehr, Agnes. Du nicht auch?«
«Ja, Karl. Soll ich dir Bier holen?«
«Das wäre schön, Agnes.«
«Ich stell auch den Apparat an. Ist gleich acht Uhr.«
Karl Wolter nickte und streckte die Beine aus. Kolka und Karl verschmolzen miteinander… so hatte er auch immer in Tiflis gesessen, nach dem Essen, beim Klang seiner alten Schallplatten, und Dimitri hatte ihm zweihundert Gramm Wodka geholt, und das Pfeif chen mit Machorka dampfte. Ein schöner Abend. Wie rund und glatt kann doch die Welt sein!
«Wann kommen die Kinder wieder?«fragte Agnes, als sie die Flasche Bier entkorkte.
«In genau fünf Tagen.«
«Ich freue mich auf sie, Karl.«
«Ich auch, Agnes. «Er legte den Arm um ihre Hüfte, und tatsächlich, sie wurde sogar noch rot.»Es ist schön, alt zu sein«, sagte er tief aufatmend.»Ich hätte es nie gedacht.«
«Die Welt sieht ganz anders aus«, sagte Agnes leise.
«Wie ein reifer Aprikosenbaum.«
«Oder wie ein reich gedeckter Tisch.«
«Das ist es, Agnes. Das ist es! Ein Tisch voller Köstlichkeiten. Man sieht, wofür man gelebt hat.«
Es war ein sanfter Winterabend. Draußen schneite es.
Am Fenster des Bauernhauses gegenüber den Zinnen der Dolomiten saß Dimitri und starrte in die weißschimmernde Dunkelheit. Bettina schlief fest in dem breiten, geschnitzten Bett, und er hatte sich leise weggeschlichen und an das Fenster gesetzt. Fast jede Nacht saß er dort, wenn Bettina schlief, und sah auf die Berge, auf den Schnee, in den Himmel, auf die vorbeitreibenden Wolken, auf die Bergwälder und die Lichtschimmer der anderen Häuser.
Ein paarmal schrak er zusammen. Bettina wälzte sich im Bett und murmelte im Schlaf… da lief er zurück und beugte sich über sie.
Sie lächelte im Schlaf, und auf ihren Lippen lag es wie Tau auf einem Rosenblatt.
Bettina Sotowskija träumt von einem Kind, dachte er dann glücklich.
O Gott, wie glücklich ich bin.
Und dann ging er doch wieder zurück zum Fenster, setzte sich, und in der hohlen Hand hielt er eine kleine Taschenlampe und be-schien mit ihr eine billige grellbunte Postkarte, die ihm der Pope beim Abschied in die Hand gedrückt hatte wie ein Heiligenbildchen.
Tiflis. Die weiße Stadt zwischen den Berghängen. Rosen leuchteten, und der Wein kletterte die Felsen hinauf, und es war, als röche man die Blüten und Früchte, wie es immer war, wenn der Wind von den Bergen herabwehte.
Grusinien und seine süßen Trauben. Im Morgennebel tappt der Bär durch die Felsen des Kaukasus. Dann bricht die Sonne über die Gipfel der Berge, und es ist, als schütte Gott flüssiges Gold über dieses Land, von dem die Dichter sagen, daß sich Gott hier in seine eigene Schöpfung verliebt habe. Dann leuchtet die Stadt auf wie ein riesiger geschliffener Diamant, und die Wärme des Himmels taucht ein in das Herz der Trauben.