Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
REALE HAUPTFIGUREN
Katharina II. (1729-1796), genannt die Große, Zarin von Russland
Grigori Grigorjewitsch Orlow (1734-1783), Offizier und ihr Liebhaber
Erich Koch (1896-1986), Gauleiter von Ostpreußen, Reichsverteidigungskommissar und Reichskommissar in der besetzten Ukraine, am 12.11.1986 in polnischer Haft verstorben
Wilhelm Zaisser (1893-1958), Mitglied des Politbüros und des ZK der SED und Minister für Staatssicherheit, im Juli 1953 entlassen und aus der Partei ausgestoßen
Erich Mielke (1907-2000), von 1957 bis 1989 Minister für Staatssicherheit der DDR
Heinrich Himmler (1900-1945), Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der deutschen Polizei, Selbstmord in britischem Gewahrsam
Lawrenti Pawlowitsch Berija (1899-1953), Geheimdienstchef der UdSSR, vermutlich am 26.6.1953 exekutiert
Georgi Maximilianowitsch Malenkow (1902-1988), von 1953 bis 1955 Regierungschef der UdSSR, 1957 endgültig entmachtet und aus dem Politbüro ausgeschlossen
FIKTIVE HAUPTFIGUREN
Tom von Sydow, 40 Jahre, Hauptkommissar der Berliner Kripo
Benjamin Kempa, SS-Sturmbannführer und Bergwerksingenieur
Curt Holländer, Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit
Erna Pommerenke alias ›die Rote Lola‹, Kreuzberger Bordellkönigin
Gregory Boynton Grant, stellvertretender Leiter der CIA
Heribert Peters, Gerichtsmediziner
Waldemar Naujocks, Leiter der Spurensicherung
Luise von Zitzewitz, Toms Tante
Hans-Hinrich von Oertzen, SS-Standartenführer
Eduard Krokowski, Kriminalassistent
Wassili Danilowitsch Slavín, ehemaliger Major des NKWD
Juri Andrejewitsch Kuragin, Oberstleutnant des MGB (Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR)
Ole Jensen, SS-Sturmbannführer und Sprengstoffexperte
Annerose Mollig, Sydows Sekretärin
Lea von Oertzen, Ehefrau des SS-Standartenführers
›Am 21., das heißt am Tage des festlichen Feiertages Ihrer Majestät Geburt, geschah in Zarskoje Selo das Folgende: Aus der Kirche geruhte Ihre Majestät in das Bernsteinzimmer hinüberzugehen und erwies den oben beschriebenen Personen [Kavalieren und Hofdamen] ihre Gunst.‹
Aus dem Zeremonialjournal Katharinas II.,
21. April 1765
Prolog
Sankt Petersburg / Russland
(Donnerstag, 21.04.1765 und Freitag, 22.04.1765)
Eins
Ostberlin
(16.06.1953)
Barbarossa[8]
Puschkin
(15.09.1941)
›Um 4 Uhr morgens haben deutsche Truppen, ohne Kriegserklärung und ohne irgendwelche Forderungen an die Sowjetunion gestellt zu haben, unser Land angegriffen. Sie haben an vielen Stellen unsere Grenzen überschritten und unsere Städte bombardiert. Wir werden unsere Pflicht tun. Der Feind wird vernichtet werden. Der Sieg wird unser sein.‹
Radioansprache des sowjetischen Außenministers
Wjatscheslaw M. Molotow anlässlich des deutschen Angriffes auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941
1
Katharinenpalais in Zarskoje Selo nahe Sankt Petersburg | kurz vor Sonnenuntergang
»Fluch über dich, Herrscherin aller Reußen!«, schleuderte der verwahrloste Wandermönch seiner Widersacherin ins Gesicht. »Fluch über dich, Ehebrecherin, Mörderin und Hure!«
Im Saal wurde es totenstill, und die Blicke der Anwesenden, überwiegend Damen von Stand, Kavaliere und Gardeoffiziere, wandten sich dem Eingang zu. Der Hüne unter dem Türsturz, vor dem die livrierten Lakaien instinktiv zurückwichen, ließ sich jedoch nicht beirren. Er strahlte etwas aus, das den gepuderten Hofschranzen Furcht einflößte, von seinem Wuchs, durch den er sämtliche Anwesende um Haupteslänge überragte, gar nicht zu reden.
»Fluch über dich!«, wiederholte der bärtige, breitschultrige und vor Schmutz nur so starrende Mönch, bevor er zum entscheidenden Schlag ausholte. »Sei verflucht, Deutsche, der du Mütterchen Russland zugrunde richten wirst!«
Die attraktive, mit einem Dreispitz und der rot-grünen Uniform der Preobraschenskij-Garde bekleidete Herrin über nahezu ein Siebtel der Erdoberfläche verzog keine Miene, selbst dann nicht, als sich der Hüne mit dem fettglänzenden, schulterlangen Haar eine Gasse durch die Reihen der Höflinge bahnte und hocherhobenen Hauptes auf sie zusteuerte.
»Sie sind an der Reihe, Grigori Grigorjewitsch«, forderte sie stattdessen den stattlichen Offizier rechts von ihr auf, nicht der erste und auch nicht der letzte Liebhaber in ihrem Leben. Beim Whist, ihrem Lieblingsspiel, ließ sie sich nur ungern stören, und das wussten Orlow und die beiden anderen Offiziere am Spieltisch genau. »Oder ist Ihnen etwa die Lust vergangen?«
»Beileibe nicht, Majestät«, versicherte der fünf Jahre jüngere, in Diensten der Venus wie auch des Mars gleichermaßen erfahrene Adelsspross, während der Parkettboden des Bernsteinzimmers unter den Stiefeltritten des sibirischen Starez erzitterte. »Wo kämen wir hin, wenn wir uns von einem hergelaufenen Schmutzfink den Abend verderben ließen!«
Jekaterina Alexejewna, bereits zu Lebzeiten ›die Große‹ genannt, gab sich betont entspannt und setzte ein huldvolles Lächeln auf. Sie war 35 Jahre alt, hatte graublaue Augen und kastanienbraunes, mithilfe einer Schleife aus Silberbrokat zusammengehaltenes, Haar. Das eine Idee zu spitz geratene Kinn zeugte von großem Durchsetzungsvermögen, wenngleich sie sich Mühe gab, diese Fähigkeit hinter einer Fassade demonstrativer Jovialität zu verbergen. Für gewöhnlich die Ruhe selbst, gab es so gut wie nichts, was ihre Laune trüben konnte. Es sei denn, man erinnerte sie an ihre Herkunft, was der Tochter eines deutschen Duodezfürsten überhaupt nicht behagte.
»Recht so, mein lieber Orlow«, pflichtete die Zarin ihrem Favoriten bei, prostete ihren Tischnachbarn zu und nippte an ihrem rubinrot schimmernden Tokaier. »An einem Tag wie diesem sollten wir uns die Laune auf keinen Fall …«
»Fluch über dich, Deutsche!« Die Stimme des ungebetenen Gastes war jetzt ganz nahe, und während sich die Zarin wieder ihrer Whistpartie zuwandte, stieg ihr der Geruch von Schweiß, Kautabak und Schweinestall in die Nase. Die Verlockung, den Wandermönch auf der Stelle arretieren zu lassen, drohte übermächtig zu werden, doch wieder einmal setzte sich ihre Selbstbeherrschung durch.
»Ihr Anliegen, Monsieur?«, richtete sie das Wort an den Starez, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. »Dépêchez-vous![5]«
Der Mönch ließ sich nicht lange bitten, entledigte sich des Kreuzes, das er über dem zerschlissenen Habit trug, und reckte es der Zarin aller Reußen entgegen. »Kehre um!«, herrschte er sie an, in einem Ton, der bei den konsternierten Höflingen für helle Aufregung sorgte. »Kehre um, deutsche Hure, auf dass unser geliebtes Mütterchen Russland …«
»Lebe, ich weiß«, vollendete Katharina die Große, geborene Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst. »Wobei ich finde, dass sich unsere rüstige Babuschka durchaus sehen lassen kann. Im Vergleich zu anderen Ländern, meine ich.«
»Und ob, Majestät!«, pflichtete ihr Orlow bei und tat zunächst so, als sei der Wandermönch Luft für ihn. Schließlich rückte er mit kalkulierter Lässigkeit sein Seidenjabot zurecht, blitzte den Kraftprotz scheel an und zischte: »Und jetzt raus hier, Muschik[6], sonst wirst du dein blaues Wunder er…«