»Und Ihre Gegenleistung?«, fragte Grant, bebend vor Zorn.
Ein Lachen erklang, wie es schauerlicher nicht hätte sein können. »Besteht darin, dass Ihr süßes kleines Geheimnis bestens bei mir aufgehoben ist. Falls Sie verstehen, was ich meine.«
Und ob er verstand.
»Ich gebe Ihnen exakt einen Tag, zwei Stunden und zehn Minuten Zeit, das heißt, bis morgen Abend um sechs. Dann will ich Fakten sehen. Spuren. Greifbare Ergebnisse. Für den Fall, dass Sie bis dahin noch nichts zuwege gebracht haben, müssen Sie mit ernsthaften Konsequenzen rechnen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Greg?«
Klar doch, deutlicher ging es wirklich nicht.
»Dann bis morgen, Deputy Director.«
Fünf Minuten später, als Mister K längst aufgelegt hatte, war Gregory Boynton Grant, anerkanntes Mitglied des Jetsets von Hyannis Port und Bankrotteur in großem Stil, immer noch wie erstarrt. Erst das viermalige Schlagen der Standuhr, passend zum übrigen Mobiliar ebenfalls im Empire-Stil, rüttelte den am Boden zerstörten Beau wach. Fernes, aus südöstlicher Richtung heranrollendes Donnergrollen erfüllte die Luft, und als Grant aus dem Fenster schaute, hingen pechschwarze Wolken über dem sturmgepeitschten Meer. Die Stirn gegen das Fensterkreuz gepresst, konnte er sich von dem Unwetter, das sich über Cape Cod zusammenbraute, einfach nicht abwenden, nicht einmal, als er plötzlich eine Hand auf der Schulter spürte.
»Besser spät als nie«, flüsterte er, den Duft von Eau de Toilette in der Nase, natürlich von Chanel. »Ich dachte schon, du … du …«
»Ja?«, raunte ihm die Stimme ins Ohr, die ihn seit jeher in ihren Bann gezogen und mitunter sogar völlig willenlos gemacht hatte. »Probleme?«
»Mehr als genug.«
»Erzähl mir davon«, forderte ihn die Stimme seines Liebhabers auf, während dessen Hand durch seinen Haarschopf fuhr und ihm im Anschluss daran den Nacken massierte. »Dafür bin ich ja schließlich da.«
9
Berlin-Tiergarten, Schloss Bellevue | 21.42 h
Auf den ersten Blick sah der halb nackte Leichnam wie eine Figur aus dem Panoptikum aus. Der kahl rasierte und zugleich überproportional große Schädel wirkte seltsam deplatziert, nicht zuletzt aufgrund des aufgedunsenen, mit Algen und Schlingpflanzen drapierten Gesichts. An mehreren Stellen, insbesondere am Rücken, wies die Haut Abschürfungen auf, die aufgrund der hereinbrechenden Dunkelheit jedoch kaum zu erkennen waren. Ungleich größer und nicht zu übersehen waren allerdings die Bissspuren, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Wasserratte, vielleicht aber auch von einem Hecht oder Karpfen stammten. Im Augenblick des Todes jäh erstarrt, stierte das linke Auge des Toten zum Abendhimmel hinauf. Das rechte hingegen fehlte komplett, auch dies möglicherweise die Tat eines Spreefisches, der sich an der Leiche zu schaffen gemacht hatte.
Alles in allem kein erfreulicher Anblick, für Heribert Peters, Gerichtsmediziner am Städtischen Krankenhaus Moabit, jedoch nichts Ungewöhnliches. Die anerkannte Kapazität mit Lehrstuhl an der FU Berlin, in Studentenkreisen unter dem Spitznamen ›Professor Blaffke‹ bekannt, erledigte ihre Arbeit mit der gewohnten Akribie. Ein Lied auf den Lippen, bei dem es sich um eine höchst eigenwillige Interpretation des Hans-Albers-Hits ›Goodbye Johnny‹ handelte, richtete sich der korpulente, nahezu kahlköpfige und sichtlich unter Bluthochdruck leidende Genussmensch aus Moabit auf, zog seine Handschuhe aus und legte eine Verschnaufpause ein. An deren Ende, das er bewusst hinauszögerte, ließ er sich schließlich herab, das Wort an Sydow zu richten: »Wurde aber auch Zeit!«, mäkelte Peters herum. »Wo, zum Teufel, hast du eigentlich gesteckt?«
»Ich? Auf einer Geburtstagsfeier«, beichtete der Kriminalhauptkommissar verschämt. Die volle Wahrheit behielt er angesichts der Übellaunigkeit von Peters lieber für sich.
So leicht ließ sich der versierte Gerichtsmediziner und Choleriker von hohen Gnaden jedoch nicht besänftigen. »Riecht man«, murrte Peters und sah Sydow missbilligend an. »Möchte wissen, wieso der Polizeipräsident ausgerechnet an dir einen Narren gefressen hat.«
»Aufgrund meines Lebenswandels, weshalb denn sonst«, frotzelte Sydow, der genau wusste, wie er den langjährigen Freund und Kollegen zu nehmen hatte. »Keine Weiber, kein Glücksspiel und …«
»… hin und wieder ein Glas Gin. Am besten Beefeater, als halber Brite gleichsam ein Muss für dich«, kanzelte der Vertreter der Spezies harte Schale, weicher Kern den mehr als einen Kopf größeren Hauptkommissar ab. Peters konnte einfach nicht anders, und Sydow nahm es ihm auch nicht krumm. Im Hinblick auf die Abgründe, mit denen der Gerichtsmediziner tagtäglich konfrontiert wurde, kam sein schroffes Gebaren weiß Gott nicht von ungefähr. »Wenn sich hier einer als Leitender aufdrängt, dann du.«
»Verbindlichen Dank«, witzelte Sydow zurück, den Blick auf den Park von Schloss Bellevue gerichtet, hinter dem ein spärlich beleuchteter Promenadenweg vorbeiführte.
In unmittelbarer Nähe, am Ufer der rasch dahinfließenden Spree, waren Naujocks und zwei weitere Kollegen von der Spurensicherung gerade dabei, mithilfe von Taschenlampen das Ufergestrüpp zu durchkämmen. Ob mit Erfolg, war angesichts der hereinbrechenden Dunkelheit und der schmalen Lichtkegel, welche die Laternen auf die Promenade warfen, mehr als fraglich.
»In puncto Menschenkenntnis macht dir so leicht niemand etwas vor.«
»Das will ich meinen«, brüstete sich Peters mit einer gehörigen Portion an Ironie. »Insbesondere was diejenigen Angehörigen der Gattung Homo sapiens maskulinum angeht, die keinerlei Lebenszeichen mehr von sich geben.«
»Deinen Humor möchte ich haben«, bereitete Sydow den bissigen Kommentaren des Gerichtsmediziners ein abruptes Ende, näherte sich dem auf eine Plane gebetteten Leichnam und ging neben ihm in die Hocke. Im Umgang mit Toten, vor allem mit Leuten wie diesem armen Teufel da, hatte er bisweilen so seine Probleme, was den Kollegen, Peters mit eingeschlossen, im Verlauf der Jahre natürlich nicht verborgen geblieben war. Das abendliche Zwielicht, welches dem Anblick einen fast mystischen Beigeschmack verlieh, tat ein Übriges, weshalb Sydow mit sich und den Nachwirkungen seines Alkoholkonsums erheblich zu kämpfen hatte. Scheiß Sauferei!, verwünschte er sich insgeheim, ein zuletzt recht häufig geäußerter Stoßseufzer, wenn auch einer ohne Folgen.
»Ran an die Buletten, Holzauge!«, forderte Peters den Kripo-Beamten auf, tippte ihm auf die Schulter und ließ sich mit entspanntem Lächeln auf einer nahen Bank nieder, um den Lichtkegel seiner Taschenlampe von dort aus über den Körper des Toten wandern zu lassen. »Nur keine Scheu, der gute Mann beißt nicht.«
»Wie gesagt – deinen Humor möchte ich haben.«
»Humor oder nicht«, konterte Peters, unter dessen Achseln sich zwei riesige Schweißflecken gebildet hatten, »was will uns dieser Tote sagen?«
»Gar nichts.«
»Scherzkeks. Und was noch?«
Sydow kniete sich hin und dachte nach. Der Geruch, den die Leiche verströmte, war kaum auszuhalten, die leere Augenhöhle des Makaberen entschieden zu viel.
»Vermutlich ein Hecht, vielleicht aber auch eine Wasserratte«, erriet der Gerichtsmediziner seine Gedanken und breitete die Arme auf der Lehne aus. »Sonst noch was? Komm schon, für jemanden, der zu Höherem berufen scheint, könntest du dich ruhig etwas mehr ins …«
»… Zeug legen, ich weiß«, vollendete Sydow mit verbissener Miene und ließ den Blick über den Körper des Unbekannten wandern. »Anfang bis Mitte dreißig, knapp 1,80 Meter groß, männlich, Hämatom am Hinterkopf, jede Menge blaue Flecken am Oberarm und nur noch drei intakte Fingernägel an der rechten Hand.«
»Für einen Anfänger gar nicht so übel«, ließ Peters gönnerhaft verlauten. »Ihre Schlussfolgerung, Watson?«