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»Sehr witzig«, knurrte Peters und drückte Sydow den Block in die Hand. »Tut mir leid, deinen Voyeurismus nicht befriedigen zu können. Wie du weißt, bete ich Evelyn an.« Danach präzisierte er zerknirscht: »Die Entdecker des Leichnams.«

»Schön, dass man so was auch mal erfährt«, raunzte Sydow den Gerichtsmediziner nach vollendeter Lektüre an, was Peters nicht auf sich sitzen ließ. »Meine Schuld, wenn du dich schon am helllichten Tag besäufst?«, keifte er.

»Schon gut, Heribert – war nicht so gemeint.« Für seine Verhältnisse ungewöhnlich konziliant riss Sydow das Blatt mit den beiden Adressen ab, ließ es in seinem Sakko verschwinden und reichte den Block an Peters zurück. Umihn zu besänftigen, tätschelte er ihm anschließend die Wange. »Und wann, denkst du, bist du mit der Obduktion fertig?«

Die Hände in den Hüften, baute sich der Gerichtsmediziner wie ein angriffsbereites Walross vor Sydow auf. »Auf gut Deutsch: Mylord wünschen, dass ich mich umgehend an die Arbeit mache«, schnaubte er, während zwei Schupos den Zinksarg zu dem auf einem nahen Feldweg parkenden Leichenwagen trugen. »Denkst du vielleicht, ich habe nichts Besseres zu tun, als immer nur nach deiner Pfeife zu tanzen?«

»Nein«, rettete Naujocks die Situation und grinste über beide Backen. »Aber du weißt ja, wie er ist.«

Auf dem besten Weg, sich auch noch mit dem Leiter der Spurensicherung anzulegen, stopfte Peters den Block in seine Gesäßtasche, zeigte Sydow einen Vogel und stapfte wutentbrannt zu seinem Wagen.

»Bis nachher, Harry-Schatz!«, rief ihm Sydow hinterher, schloss seinen Aston Martin auf und warf den Zündschlüssel auf den Beifahrersitz. »Solltest du Sehnsucht nach mir haben, kannst du mich jederzeit im Präsidium …« Ein Streifenbeamter, der Sydow etwas ins Ohr flüsterte, bereitete seinen Hänseleien ein abruptes Ende. »Was gibt’s?«

Eine halbe Minute später, vor Schreck kalkweiß im Gesicht, konnte es der 40-jährige Kriminalhauptkommissar immer noch nicht fassen. »Scheiße!«, rief er zur Belustigung von Heribert Peters aus, der wieder umgekehrt und mit scheinheiligem Lächeln neben den rot lackierten Sportwagen getreten war. »Auch das noch.« Dann kurbelte er das Fenster hoch und startete den Motor.

»Mach’s gut, Tommy-Boy!«, rief der 53-jährige Gerichtsmediziner und machte keinerlei Anstalten, mit seiner Schadenfreude hinterm Berg zu halten. »Winke, winke! Und nicht vergessen: Geteiltes Leid ist halbes Leid.«

Aber da war Tom Sydow bereits in Richtung Siegessäule davongerast.

10

Berlin-Lichtenberg, Ministerium für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße | 21.55 h

»Versagt? Auf der ganzen Linie? Wir?« Wilhelm Zaisser, Minister für Staatssicherheit, war so erbost, dass er dem Mann am anderen Ende der Leitung am liebsten den Marsch geblasen hätte. »Denken Sie vielleicht, ich bin Hellseher?«

Kurz vor dem Auflegen schnappte der gebürtige Westfale, dessen gestrenger Blick nur selten einem Lächeln wich, laut und vernehmlich nach Luft. Im Verlauf seines Lebens hatte der bald 60-jährige KPD-Aktivist der ersten Stunde jede Menge niederschmetternde Nachrichten verkraften müssen. An die von heute reichten sie jedoch allesamt nicht heran. Im Vergleich dazu waren seine Zeit im Untergrund, die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und das Exil im stalinistischen Russland die reinste Sommerfrische gewesen. Der heutige Tag, so sein Fazit, war der Tiefpunkt seines Lebens.

Irrtum ausgeschlossen.

»Konterrevolutionärer Putschversuch? Machen Sie es sich da nicht ein bisschen einfach, Genosse?« Das Ohr am Hörer, aus dem sich eine wahre Flut von Vorwürfen über ihn ergoss, verdüsterte sich Zaissers ohnehin schon ernste Miene noch mehr. So dämlich konnte wirklich nur Ulbricht[20] daherreden. Das machte diesem penetrant sächselnden Spitzbart so schnell keiner nach. Dabei wollten die Werktätigen doch nur eins: mehr Geld in der Lohntüte und leben wie die Bevölkerung von Westberlin. Aber genau das wollte und konnte sein erklärter Intimfeind ja nicht kapieren.

»Konterrevolutionäre Banditen, imperialistische Agenten, Faschisten!«, quakte es dermaßen schrill aus dem Hörer, dass es einem in den Ohren wehtat. »Und die Staatssicherheit, Schwert und Schild der Partei, bekommt nicht das Geringste davon mit. Können Sie mir vielleicht verraten, Genosse, wie wir der Lage wieder Herr werden wollen?«

»Jedenfalls nicht, indem wir zur Waffe greifen«, warf Zaisser lakonisch ein und bedachte die Porträts von Marx, Engels und Lenin, welche die gegenüberliegende Wand mit dem ockerfarbenen Tapetenmuster zierten, mit einem nostalgischen Blick. Beim Anblick des Konterfeis von Stalin, der vor gut drei Monaten das Zeitliche gesegnet hatte, wurde dieser jedoch wieder ernst. Wie es nach dem Tod des Generalissimus weitergehen würde, konnte man nicht mit Bestimmtheit sagen. Nur so viel, dass für die DDR eine Menge davon abhing, wer in der Sowjetunion das Ruder ergreifen würde.

Eine Menge, wenn nicht gar alles.

»Wenn wir das tun, Genosse Ulbricht, haben wir für alle Zeiten ausgespielt.«

»So, meinen Sie.«

»Mit Verlaub – ja!«, bellte Zaisser in den Hörer, während sich die Zornesfalten oberhalb seiner Nasenwurzel zusehends vertieften. »Oder muss ich Sie daran erinnern, wie weit wir bereits hinter dem Klassenfeind zurückgeblieben sind?«

»Was Sie da von sich geben«, japste Ulbricht, der vor Empörung glatt das Sächseln vergaß, »ist Hochverrat. Glatter Hochverrat. Ich hoffe, das ist Ihnen bewusst, Herr Minister.«

»Ist es, Genosse Generalsekretär, ist es«, parierte Zaisser ungerührt. Einmal in Fahrt, wollte er es seinem Erzrivalen im Politbüro mal so richtig zeigen. Zu verlieren hatte er ohnehin nichts mehr. »313 Mark Durchschnittslohn für einen Produktionsarbeiter, für die Mitglieder des Politbüros dagegen mehr als das Sechsfache. Circa 65 Mark Rente, gravierende Versorgungsmängel, Lebensbedingungen wie kurz nach dem Krieg, Rationen knapp über dem Existenzminimum, HO-Waren, die sich kein Mensch leisten kann – und Sie, Genosse, wundern sich, warum die Werktätigen langsam auf die Barrikaden gehen.«

»Diese an Defätismus grenzende Polemik werde ich mir nicht länger …«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Walter«, wurde es Zaisser, dem das Idiom seines Gesprächspartners den letzten Nerv tötete, allmählich zu bunt. »Wenn du mich auf einmal siezt, ist mir das, ehrlich gesagt, egal. Als Generalsekretär muss man schließlich auf Distanz gehen – klar. Aber wenn du mir für etwas, das wir alle auf unsere Kappe nehmen müssen, die Schuld in die Schuhe schieben willst, lasse ich mir das nicht bieten.«

»Vorsicht, Sie spielen mit dem Feuer.«

»Ganz wie Sie wollen, Genosse Ulbricht«, antwortete Zaisser mit versteinerter Miene und fuhr sich durch das schüttere, stets angefeuchtete und nach hinten gekämmte Haar. »Dann wollen wir mal Tacheles reden.«

»Ich glaube nicht, dass mir dein Ton gefällt, Willy.«

»Na also, warum nicht gleich?«, antwortete Zaisser gedehnt und ließ sich in den gepolsterten Bürosessel sinken, den Panzerschrank im Auge, in dem sämtliche Geheimnisse schlummerten, welche die Führungskader der DDR zu verbergen hatten. Weit mehr jedenfalls, als Ulbricht ahnte oder ihm zu überlassen bereit gewesen wäre – je nachdem. »So ein Du schafft bekanntlich gleich eine intime Atmos…«

Ausgerechnet jetzt, im denkbar ungünstigsten Moment. Den Hörer am rechten, das Klopfen im linken Ohr, unterdrückte Zaisser seine aufkeimende Wut, brach mitten im Satz ab und sagte: »Wir hören voneinander, Walter.« Unmittelbar danach legte er auf.

»Wer, zum Teufel …«, setzte er daraufhin an, fest entschlossen, den Störenfried vor der Tür zurechtzuweisen. Wenn schon nicht Ulbricht, würde wenigstens er seinen Zorn zu spüren bekommen.

Doch Wilhelm Zaisser, einer der mächtigsten, wenn nicht gar der mächtigste Mann der DDR, hatte falsch gedacht.