Выбрать главу

Kaum hatte er den Blick nämlich gehoben, fiel dieser auf einen lediglich 1,63 Meter großen, bulligen und eher ungepflegt wirkenden MfS-Beamten, bei dessen Anblick sich seine Wut quasi in nichts auflöste. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar waren, empfand er so etwas wie Respekt vor ihm. Umso unverständlicher, da es sich hier lediglich um seinen Stellvertreter handelte. Ein Mann, der es nach landläufiger Meinung in sich hatte. Brandgefährlich, geheimnisumwittert – und ohne jeden Skrupel.

»Bitte um Verzeihung, Genosse Minister«, scholl es durch das schmucklose, nach einer Mischung aus Bohnerwachs, Zigaretten und Bohnenkaffee riechende Büro, dessen einzige Zierde ein roter Teppich war, der die Schritte des stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit fast komplett verschluckte. »Aber Sie hatten mich auf 22 Uhr zu sich gebeten. Die allgemeine Lage, Sie verstehen.« Und ob er verstand.

»Ihre Einschätzung, Mielke?«, antwortete Zaisser reserviert und bedeutete der Nummer zwei der Stasi, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

Sein Stellvertreter reagierte jedoch nicht darauf. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Genosse«, antwortete der 45-jährige SED-Funktionär, cholerisch, grobschlächtig und nicht übermäßig intelligent, »würde ich lieber stehen. Ich denke, es gibt noch viel zu tun.«

Zaisser beließ es bei einem knappen Kopfnicken. »Die Lage?«

»Überaus ernst, Genosse Minister – um nicht zu sagen bedrohlich.« Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit machte ein grimmiges Gesicht, wie ein Bullterrier, der darauf wartet, von der Leine gelassen zu werden. »Aufrufe zum Generalstreik, zur deutschen Einheit, ja sogar zu gewalttätigem Losschlagen. Darüber hinaus Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhung, nach Senkung der Lebenshaltungskosten, nach freien und geheimen Wahlen und Verzicht auf jegliche Maßregelung der Streikenden, insbesondere derjenigen in der Stalinallee.[21] Gepaart mit faschistisch-reaktionärer Propaganda – wie zum Beispiel in diesem Pamphlet hier.« Die Sonderausgabe des ›Abend‹ in der Hand, wich Mielke dem Blick seines Vorgesetzten aus, ließ sie auf dessen Schreibtisch fallen und zitierte: »›Ostberliner Arbeiter rufen zum Generalstreik gegen ihre Unterdrücker auf‹ – deutlicher geht es wohl nicht, oder?«

»Scheint so«, murmelte Zaisser bei der Lektüre des Artikels, der seine Laune unter null sinken ließ. »Und was nun?«

Eine Frage, auf die Mielke nur gewartet zu haben schien. »Sofortige Gegenmaßnahmen!«, schnarrte er, einem Soldaten beim Appell zum Verwechseln ähnlich. »Als da sind: Zerschlagung der faschistischen Widerstandsnester, Ergreifung der Schuldigen und umgehende Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.«

»Und was, wenn diese Maßnahmen nicht greifen?«

»Beistandsersuchen an die sozialistischen Bruderländer und Liquidierung der imperialistischen Agenten, die sich den Untergang unseres sozialistischen Vaterlandes zum Ziel gesetzt haben.«

Kalkweiß im Gesicht, hielt es Zaisser nicht mehr auf dem Sitz. »Wie bitte?«, presste er hervor, außerstande, seine Erregung zu zügeln. »Habe ich da eben richtig gehört? Sie wollen die Russen um Hilfe bitten, uns zu einem hilflosen Popanz degradieren?«

»Wenn es sein muss – ja.«

»Mit welchem Ziel?«

»Neutralisierung sämtlicher Spione, Verräter, Aufwiegler und CIA-Agenten. Wenn möglich, innerhalb kürzester Zeit.«

»›Neutralisierung‹, so, so.« Das vorspringende Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, begann Zaisser hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen. Als einer der wenigen, die wussten, wie es um die DDR stand, durfte er die Warnungen, die ihn im Laufe des Tages erreicht hatten, natürlich nicht ignorieren. Schon gar nicht im Angesicht von Mielke, der ihm dies bei nächstbester Gelegenheit unter die Nase reiben würde. »Ich darf wohl annehmen, Genosse«, schlug er deshalb wieder einen versöhnlicheren Ton an, »dass Sie imstande sind, in Bezug auf Ihre Verschwörungstheorie die entsprechenden Beweise vorzulegen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Genosse Minister.« Mielke konnte es kaum erwarten. Beflissen bis an die Grenze der Servilität, öffnete er die Mappe, die er unter den linken Arm geklemmt hatte, entnahm ihr ein Foto und legte es behutsam auf den Tisch. »Bedienen Sie sich.«

»Wer ist das, wenn man fragen darf?«, murmelte Zaisser, nachdem er sich wieder an den Schreibtisch gesetzt und die auf 20 mal 30 Zentimeter vergrößerte Schwarz-Weiß-Aufnahme, auf der zwei in etwa gleichaltrige Männer zu erkennen waren, im Licht seiner Schreibtischlampe begutachtet hatte. Der Minister für Staatssicherheit kratzte sich nachdenklich am Ohr. Eigentlich war ihm ja nicht nach Scherzen zumute. Um Mielke eins auszuwischen, war ihm allerdings jedes Mittel recht: »Doch nicht etwa zwei US-Agenten?«

Mielke verneinte.

»Ein Agent und seine Kontaktperson?«

»Das schon eher.«

Zaisser schaute auf und warf Mielke einen unwirschen Blick zu.

»Ein Verräter aus den eigenen Reihen und eine unbekannte Person, vermutlich Amerikaner.«

Zaisser pfiff überrascht durch die Zähne. »Tatsächlich?«

»Mit einem Faible für teure Klamotten, Salonlöwe durch und durch.«

»Und das Prachtexemplar rechts von ihm?«

»Ist der Dreckskerl, mit dem ich von heute an eine Rechnung offen habe.«

»Aus den eigenen Reihen, sagen Sie?«

Mielke nickte, drehte die geöffnete Mappe um und bot sie Zaisser dar. »Bitte.«

Binnen Sekunden um Jahre gealtert, schob Zaisser das Foto beiseite, nahm das Geheimdossier entgegen und vertiefte sich in ein Schriftstück, auf dem sich die Aufschrift ›streng geheim!‹ befand. Bis er sich wieder gefangen hatte, vergingen mehrere Minuten, und selbst dann kam er aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. »Rembrandt?«, stieß er plötzlich hervor, nachdem er die Akte zum wiederholten Mal gelesen hatte.

»Sein Deckname«, erläuterte Mielke, in einem Tonfall, der seine Verachtung überdeutlich werden ließ. »Mit richtigem Namen heißt das Schwein Curt Holländer und stammt aus …«

»Jahrgang 1914, geboren in Ostpreußen, Abitur, unmittelbar danach Studium der Kunstgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität«, rezitierte Zaisser, immer noch nicht ganz bei der Sache.

»Von daher auch sein Pseudonym.«

»Wie originell!«, grummelte Zaisser und murmelte: »Mit 22 Eintritt in die SS, Dienst in der SS-Panzer-Division ›Das Reich‹ und kurz vor Kriegsende in der ›Leibstandarte Adolf Hitler‹. Gefangennahme durch die Rote Armee.« Puterrot vor Empörung, klappte der Minister den Aktendeckel zu und funkelte Mielke wutentbrannt an. »Können Sie mir verraten, Sie Experte, wie es sein kann, dass sich ein gestandener Faschist wie dieser … dieser …«

»Holländer.«

»Belassen wir es lieber bei seinem Decknamen«, schnaubte Zaisser, warf einen Blick auf das Foto und knurrte: »Und aus welchem Grund ist dieser Rembrandt nicht auf der Stelle exekutiert oder auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien deportiert worden?«

»Spitzeldienste im Kriegsgefangenenlager. Verrat von Fluchtplänen und detaillierte Angaben über die Vita seiner Kameraden. Speziell über diejenigen aus der SS.«

»Verstehe.« Um einiges nachdenklicher, stützte Zaisser die Ellbogen auf die Schreibtischkante und ließ sein Gesicht hinter den Handflächen verschwinden. »Und in welcher Abteilung treibt sich die Ratte herum?«

»In der HVA.«[22]

»Wie praktisch.«

»Als OibE.«

»Ganz schöner Flurschaden, Mielke. Und das ausgerechnet jetzt.«

»Dennoch kein Anlass zum Pessimismus, wenn die Bemerkung gestattet ist.«

Zaisser hob den Kopf und sah Mielke entgeistert an. »Und worauf – wenn die Bemerkung gestattet ist –«, äffte er seinen Gesprächspartner nach, »gründet sich Ihre Zuversicht?«

Die Antwort der grauen Eminenz im Ministerium für Staatssicherheit kam prompt. »Darauf, dass Leutnant Lippmann, ein zuverlässiger Kader in Westberlin, ihm seit geraumer Zeit auf den Fersen ist. Übrigens der Mann, der Holländer bei seinem kleinen Plausch im Café Kranzler abgelichtet hat. Unbemerkt, wie ich wohl nicht extra hinzufügen muss.« Ein Lächeln, für seine Verhältnisse fast eine Entgleisung, huschte über Mielkes Gesicht. »Ihre Direktiven, Genosse Minister?«