»Unauffällige Beschattung«, erwiderte Zaisser, plötzlich wie ausgewechselt. »Zumindest so lange, bis wir wissen, mit wem dieser Holländer in Verbindung steht. Und in welcher Sache. Liquidierung nur bei Fluchtgefahr, ist das klar? Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Mit anderen Worten – sollten wir den Schlamassel, in dem wir stecken, heil überstehen, knöpfe ich mir diesen Holländer vor.« Zaisser setzte eine grimmige Miene auf, noch verbissener, als er ohnehin wirkte. »Höchstpersönlich.«
»Ihr Wunsch sei mir Befehl, Genosse.«
»Wenn wir gerade dabei sind – worum hat es sich in dem Gespräch zwischen Rembrandt und diesem Yankee-Fatzke überhaupt gedreht?«
Fast schon an der Tür, hielt Mielke inne und drehte sich ohne erkennbare Anzeichen von Eile um. »Dem Vernehmen nach um das Bernsteinzimmer«, antwortete er, ein sibyllinisches Lächeln im Gesicht. »Hatte ich das nicht erwähnt?«
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Ostberlin, Bahnhof Friedrichstraße | 22.45 h
Er war der Mann mit den vielen Gesichtern, charmant, weltoffen und gebildet, zuweilen auch grob, rücksichtslos und brutal und so skrupellos, dass er seinesgleichen suchte. Er war der Mann, auf den die Frauen flogen, schlank, aber nicht zu sehr, gut gebaut und dunkeläugig, mit einnehmendem, fast hypnotischem Blick und walnussfarbenem, kaum zu bändigendem Haar. Dank dieses Blickes und der Fähigkeit, die jeweiligen Gesprächspartner völlig für sich einzunehmen, hatten diese das Gefühl, der Sohn eines betuchten Gemischtwarenhändlers aus dem ostpreußischen Gumbinnen sei ausschließlich an ihnen, und nur an ihnen interessiert. Es war diese Fähigkeit, die ihn fast nie auf taube Ohren stoßen ließ, in welchen Kreisen er sich auch bewegte.
Darüber hinaus besaß Curt Holländer, Offizier im besonderen Einsatz, Oberleutnant der Staatssicherheit und Wagner-Verehrer, die Fähigkeit, in jede beliebige Rolle zu schlüpfen. Und sei sie auch noch so ausgefallen. Hier Folterknecht, da Charmeur. Bei ihm funktionierte so etwas auf Knopfdruck. Nicht etwa, weil er ein übermäßig begabter Schauspieler gewesen wäre, sondern weil er Worte wie Prinzipientreue, Loyalität und Standfestigkeit nur vom Hörensagen kannte. Holländer war völlig gewissenlos, ein in seiner Zunft nützliches, wenn nicht gar unverzichtbares Requisit. Das einzig Wichtige für ihn war, auf der Seite der Sieger zu stehen. Dafür würde er alles, aber auch alles tun.
Wenn es sein musste, sogar den Leichnam eines ehemaligen Kameraden ausbuddeln.
In Gedanken bereits bei seinem Vorhaben, kramte Rembrandt eine zerknitterte Anzeige aus seiner Tasche und überflog den Text.
›In aller Stille nehmen wir Abschied von unserem Ehemann, Vater, Bruder, Schwager und Onkel, Hans-Hinrich von Oertzen, (*17.9.1917, †4.6.1953). Wir werden ihm stets ein ehrenvolles Andenken bewahren.‹
Die Todesanzeige in der rechten, sein Feuerzeug in der anderen Hand, entzündete Rembrandt den Zeitungsausschnitt und hielt ihn so lange in der Hand, bis die bläulich-gelbe Flamme seinen Daumen beinahe erreicht hatte. Dann ließ er das Feuerzeug wieder in die Tasche gleiten, öffnete den Abfallbehälter und ließ die spärlichen Reste darin verschwinden. Holländer lachte leise in sich hinein. Der gute alte von Oertzen. Vorzeigearier vom Scheitel bis zur Sohle, auch optisch. Gardemaß, blond, blauäugig und von edelstem Geblüt. SS-Standartenführer. Ein nordischer Recke wie aus der Rassenfibel.
Genau der Mann, nach dem er jahrelang auf der Suche gewesen war.
Im Begriff, in Höhe der Museumsinsel aus einem Waggon der Linie 5 zu sehen, blieb Holländers Blick an seinem Spiegelbild haften. Der Impresario mit dem d’Artagnan-Bart, eine seiner Paraderollen, hatte ausgespielt. Nicht zuletzt deshalb hatte er seine Klamotten gewechselt, sich rasiert und seine Lockenpracht kräftig gestutzt, wenngleich er sich nicht dazu hatte durchringen können, auf seinen exotischen Bartschmuck zu verzichten. Kein Zweifel, im alles entscheidenden Moment war der Mann ohne Gesicht gefragt, nicht der, den die Kameraden im Krieg Professor getauft hatten. Dabei konnte Holländer wirklich nicht von sich behaupten, dass er musisch oder künstlerisch desinteressiert war. Ganz im Gegenteil. Schließlich hatte er nach dem Abitur Kunstgeschichte studiert und es diesbezüglich zu profunden Kenntnissen gebracht. Wirklich Feuer gefangen hatte er jedoch nie, und so war es für ihn kein Verlust gewesen, als sich aufgrund der Beziehungen seines Vaters die Chance für eine Karriere in der SS ergeben hatte. Rembrandt fuhr mit dem Zeigefinger über seinen Musketierbart und lächelte. Dieses Gesülze von Ariertum, der Überlegenheit der nordischen Rasse und unverbrüchlicher Treue zum Führer war ihm zwar von Anbeginn zuwider gewesen, geschadet hatte es seiner Karriere allerdings nicht, war er schließlich dadurch in die unmittelbare Nähe zur Macht gerückt, auf Tuchfühlung sozusagen. Wenn nicht die Frauen, dann war es die Karriere gewesen, die ihn stets angezogen hatte. Macht, entsprechende Beziehungen und die Möglichkeit, nach Kräften davon zu profitieren. Profit, persönliche Vorteile und das Kapital, welches sich aus dem Wissen um die Geheimnisse der Mächtigen schlagen ließ. Darauf, und nur darauf kam es an.
Apropos Geheimnis. Wenn es eines gab, hinter dem die halbe Welt her war, dann das, dessen Enträtselung er sich mit Haut und Haaren verschrieben hatte. Auf einen Schlag wie elektrisiert, sprang Rembrandt auf, blieb aber auf halbem Weg zur Waggontür stehen. Allein der Gedanke an das Bernsteinzimmer hatte genügt, um ihn die sozialistische Tristesse ringsum vergessen zu lassen. Keine Macht der Welt, am allerwenigsten eine Frau, würde ihm so kurz vor dem Ziel einen Strich durch die Rechnung machen. Ein habgieriges Funkeln trat in Rembrandts Gesicht, ungeachtet der adretten Blondine, die ihn aufmerksam beäugte. Wandvertäfelungen aus Bernstein, jede davon ein Vermögen wert. Dazu Spiegelpilaster, Steinmosaiken und Schnitzwerk, sorgsam verpackt in 24 Kisten. Eines der kostbarsten Kunstwerke, das die Welt je gesehen hatte, und er, Curt Holländer, würde den Finderlohn dafür kassieren. Vorausgesetzt, es käme ihm niemand in die Quere. Rembrandts Miene verfinsterte sich wieder und nahm einen dämonischen Ausdruck an. Panzergrenadier Benjamin Kempa, Weichling vom Scheitel bis zur Sohle, bei der SS völlig fehl am Platz. Ausgerechnet er hatte versucht, ihn zu übertölpeln. Obwohl er ganz genau hätte wissen müssen, mit wem er sich anlegte.
›Bahnhof Friedrichstraße. Bitte aussteigen, der Zug endet hier.‹ In Gedanken bei seiner Zeit in der SS, holte ihn die Durchsage auf dem Bahnsteig in die Gegenwart zurück. Wieder ganz der Alte, sah sich der Mann mit den vielen Gesichtern argwöhnisch um, stieg aus und steuerte auf die Stufen zu, die hinunter zum U-Bahnhof führten. Um potenzielle Verfolger abzuschütteln, bestieg er einen Zug der Linie 6, wartete bis kurz vor der Abfahrt und stieg in letzter Sekunde wieder aus. Danach kehrte er wieder in die Bahnhofshalle zurück, halbwegs sicher, von nun an freie Bahn zu haben. Dabei fiel ihm ein Transparent auf, und obwohl er momentan andere Sorgen hatte, wäre er bei dessen Lektüre beinahe in Gelächter ausgebrochen. ›Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‹, war auf dem Spruchband zu lesen.
Welch ein Hohn.
Ein Glück, dass seine Tage in Diensten der Stasi gezählt waren. Gut gelaunt wie schon lange nicht mehr, ließ Rembrandt den Blick durch die gähnend leere Bahnhofshalle schweifen. Kurz darauf, offenbar allein auf weiter Flur, ging er zum öffentlichen Münzfernsprecher, griff zum Hörer, wählte und übermittelte die kürzeste Nachricht seines Lebens. Eine Nachricht, die nur aus einem einzigen Wort bestand: »Ostseegold«. Dann hängte er auf und schlenderte ohne erkennbare Eile zum Haupteingang.