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Die Hände in einen Trenchcoat gesteckt, der ebenso unauffällig wie schäbig war, trat Rembrandt auf die Straße. Es war ruhig hier draußen, dermaßen ruhig, dass es einem schon wieder verdächtig vorkam. Vor dem Eingang waren zwei Taxifahrer in ein hitziges Gespräch vertieft, das war auch schon alles. Fahles Laternenlicht, Nieselregen und Pfützen, in denen sich eine bleifarbene Brühe staute. Und immer noch Ruinen, mehr als acht Jahre nach dem Krieg. Realistischer hätte man den Sozialismus nicht darstellen können.

Doch damit, vor allem mit diesen Scheißparolen, dem dämlichen Propagandagequatsche und Herbeireden einer goldenen Zukunft, war jetzt ein für alle Mal Schluss. An das, was die Berufsoptimisten aus der Partei vom Stapel ließen, glaubten ja wohl selbst die treuesten Jünger der SED nicht mehr.

Auferstanden aus Ruinen[23] – von wegen.

Ohne sich umzudrehen, beschleunigte Rembrandt seinen Schritt und schlug den Weg in Richtung Linden ein. Obwohl es auf Mitternacht zuging, war die Schwüle, unter der Berlin ächzte, immer noch nicht abgeklungen, und nach ein paar Hundert Metern tropfte dem Offizier im besonderen Einsatz bereits der Schweiß von der Stirn. Aus den Gullys am Straßenrand stiegen grauweiße Dunstschwaden empor, kein Mensch, nicht einmal ein Vopo, kreuzte seinen Weg. Eine unerträgliche, fast mit Händen zu greifende Spannung lag über der Stadt, doch Rembrandt, in Gedanken längst woanders, bekam davon nichts mit. Für ihn zählte nur noch eins: sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Alles andere, das Schicksal des Arbeiter- und- Bauernstaates mit eingeschlossen, war ihm vollkommen egal.

Hauptsache, er kam unbehelligt nach drüben.

An der Ecke Linden-Friedrichstraße, nur wenige Gehminuten vom Brandenburger Tor entfernt, sollte sich diese Hoffnung jedoch zerschlagen. Unter normalen Umständen hätte er die Zivilstreife, die auf ihn zusteuerte, bereits hundert Meter gegen den Wind gerochen. Aber was, stöhnte Rembrandt innerlich auf, während er nach seinem Dienstausweis tastete, ist am heutigen Tag schon normal. Gar nichts. Was er auf Teufel komm raus hatte vermeiden wollen, trat nun ein, und obwohl er die beste aller Ausreden parat hatte, machte sich schleichendes Unbehagen in ihm breit.

Die Rettung kam in allerletzter Sekunde, in Gestalt eines dunklen 62er Cadillac mit amerikanischem Nummernschild und der Plakette CD[24]. Rembrandt atmete hörbar auf. Auf Deputy Director Grant und seine Handlanger in Berlin war eben doch Verlass.

»Volkspolizei – Ihren Aus…«, war das Einzige, was der ältere der beiden Streifenbeamten, ein Wachtmeister mit dem Gesicht einer Dogge, herausbrachte. Dann hielt der Cadillac an und Rembrandt stieg ein.

»Hatten Sie einen erfolgreichen Tag?«, fragte der CIA-Beamte, als der Mann, dessen Namen er nicht kannte, auf dem Rücksitz Platz genommen hatte.

»Kann man wohl sagen«, antwortete Rembrandt auf Englisch, als der Wagen des amerikanischen Militärattachés unbehelligt das Brandenburger Tor passierte. »Und soll ich Ihnen was sagen? Er wird noch wesentlich erfolgreicher werden.«

12

Berlin-Zehlendorf, Waldfriedhof | 23.50 h

Erich Mielkes Mann in Westberlin war nicht viel größer als ein Kind, zum Schein als Journalist tätig und einer der zuverlässigsten Männer, über welche das MfS verfügte. Unter den dortigen Agenten war der umtriebige, stets zu Scherzen aufgelegte Sportreporter mit dem Pepita-Hut schon längst eine Legende. Im Gegensatz zu etlichen KPD-Funktionären, die durch die Hölle des KZs Oranienburg gegangen waren, hatte der unverwüstliche kleine Pankower nämlich stets dichtgehalten, und das volle acht Jahre lang, bis zu seiner Befreiung durch die Rote Armee. Neben ausgeprägter Beharrlichkeit und seinem Überlebenswillen war es vor allem eine Fähigkeit, die ihn auszeichnete, nämlich die, jeden auch noch so misstrauischen Agenten der Gegenseite aufzuspüren, unauffällig zu observieren und obendrein gestochen scharfe Bilder zu schießen.

Mit den Körperkräften von Willy Lippmann, Lebendgewicht 58 Kilo, war es dagegen nicht so weit her. Das hatte er im Verlauf der vergangenen eineinhalb Stunden wieder einmal zur Genüge erfahren müssen.

Nass bis auf die Haut, stieß der kleinwüchsige Agent der Staatssicherheit seine Schaufel in die feuchtwarme, vom letzten Sturzregen aufgeweichte Erde, richtete sich auf und ließ die Hand über seinen deformierten Rücken gleiten. Mein Andenken an die Zeit im KZ!, pflegte er bisweilen zu scherzen, aber danach war ihm momentan nicht zumute. Zuallererst musste er nämlich zusehen, wie er seinen Hintern in Sicherheit brachte. Und danach würde er diesem Lackaffen die Rechnung präsentieren. Stück für Stück, ohne Erbarmen. Für das, was Rembrandt auf dem Kerbholz hatte, würde dieser Salon-Kommunist bezahlen. Das war so gewiss wie das Amen in der Kirche. Hätte man ihn, Lippmann, gewähren lassen, wären die Tage dieses Verräters ohnehin längst gezählt gewesen. Gehörte die gegenwärtige Mission doch zum Makabersten, mit dem er im Verlauf seiner Agentenkarriere konfrontiert worden war. Mit Abstand. Auf die Idee, einen Toten auszugraben, wäre vermutlich nicht einmal die Gestapo gekommen. Und das wollte bekanntlich etwas heißen.

Fernes Donnergrollen im Ohr, durch das sich der nächste Regenguss ankündigte, zuckte der Leutnant der Staatssicherheit jäh zusammen. Fast gleichzeitig fiel sein Blick auf die Inschrift, welche sich auf dem Grabstein aus Rosengranit befand. ›Hans-Hinrich von Oertzen‹ stand darauf in gotischen Lettern geschrieben, ›17.9.1917-4.6.1953‹. Hört sich ganz nach Krautjunker an, mutmaßte Lippmann, bestimmt einer, mit dem die Genossen in der Normannenstraße noch eine Rechnung offen hatten. Und zwar eine ziemlich hohe. Anders konnte er sich den Auftrag, der ihm mithilfe eines verschlüsselten Funkspruchs übermittelt worden war, nicht erklären.

»Und dann auch noch unpünktlich.« Der vermeintliche Sportreporter, in Stasi-Kreisen unter dem Decknamen ›Laurin‹ bekannt, ließ die angestaute Atemluft entweichen und trat einige Schritte zurück. Der Geruch, der ihm aus dem offenen Grab in die Nase stieg, war infernalisch. Eine Mischung aus Fäulnis, Moder und fortgeschrittener Verwesung und somit nichts für schwache Nerven. Selbst für ihn, der er im KZ mit allen möglichen Gräueltaten konfrontiert worden war, definitiv nicht zu ertragen.

Um sich abzulenken, aber auch, um den Gedanken an das Kommende auszuweichen, ließ Laurin sein Feuerzeug aufleuchten und sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht, übte er sich in Galgenhumor. Gewitterschwüle. Wie passend. Von den Ästen der Kiefer, unter die er sich zurückgezogen hatte, tropfte die Feuchtigkeit, und wie er so ausharrte, umgeben von Dunstschwaden, Gräbern und einem Marmorengel, der seine mit Moosflechten bedeckten Schwingen im mitternächtlichen Zwielicht ausbreitete, beschlich ihn das Gefühl, das alles hier sei nur ein Traum. Oder etwas weitaus Schlimmeres.

»Na, schon fertig, Genosse?«

»Mann, haben Sie mich vielleicht erschreckt!« Wachsbleich im Gesicht, wirbelte Laurin herum. Wie es die Gestalt im Trenchcoat geschafft hatte, sich unbemerkt an ihn heranzupirschen, war ihm schleierhaft. Einen flüchtigen Moment lang, die Hand bereits am Abzug seiner Tokarew, drängte sich ihm der Gedanke auf, hier könne es sich nur um ein Hirngespinst handeln. Doch weit gefehlt.

»Weshalb so unwirsch, Genosse? Von mir haben Sie nichts zu befürchten.« Rembrandt zückte sein Feuerzeug, zündete sich eine KARO-Zigarette an und neigte den Kopf zur Seite, ein gönnerhaftes Lächeln im Gesicht. »Wie ich sehe, haben Sie gute Arbeit geleistet.«

»Danke für die Blumen.«

»Ehre, wem Ehre gebührt«, scherzte Rembrandt und inspizierte das offene Grab, wobei sich Laurin der Eindruck aufdrängte, sein Führungsoffizier verwechsle den Friedhof mit einer Vernissage. »Hübsch, wirklich sehr hübsch.«

»Und was nun?«