»Aber, aber, mein lieber Orlow«, fiel die Zarin dem gut gebauten Offizier, zugleich Vater ihres jüngsten Sohnes, mit unüberhörbarem Tadel ins Wort. »Mit der Kirche wollen wir es uns doch wohl nicht verderben, oder?«
»Das verhüte …«, schickte Orlow sich an, den Ball aufzunehmen, eine Schnupftabakdose in der linken Hand.
Es war der Wandermönch, der den Satz vollendete, und zwar so, dass es dem Offizier die Sprache verschlug.
»Wag es nicht, Sünder …«, presste der Starez hervor und funkelte den eingedenk seiner erotischen Kunstfertigkeit in den Grafenstand erhobenen Salonlöwen wütend an, »wag es nicht, den Namen des Herrn in den Mund zu nehmen. Sonst wird es ein böses Ende mit dir nehmen.«
»Oder mit dir!«, ergänzte die Zarin, des Schauspiels überdrüssig, während sie sowohl Orlow als auch der hereinstürmenden Palastwache mit erhobener Hand Einhalt gebot. »Und deshalb: Sage Er mir, was Er loswerden möchte, Mönch, und rede Er nicht andauernd um den heißen Brei herum!«
Unter den Offizieren, Lakaien und Hofdamen, die sich mit angehaltenem Atem Luft zufächelten, erhob sich affektiertes Gelächter. Katharina die Große schien es nicht zu bemerken. Anscheinend ganz in ihr Spiel vertieft, legte sie ein Ass auf den Tisch, ließ den Arm auf dem mit Seidendamast bespannten Stuhl ruhen und hauchte mit kaum hörbarer Stimme: »Ich höre.«
»Kehre um, Deutsche, bevor es zu spät für dich ist«, stieß der Mönch hervor, während draußen im Park allmählich die Abenddämmerung hereinbrach. Im Licht der Kerzen, welche die Wände des Bernsteinzimmers wie flüssiges Gold erstrahlen ließen, warf seine Gestalt einen unheimlichen Schatten an die gegenüberliegende Wand, was den Starez wie einen dem Erdboden entstiegenen Dämon erscheinen ließ.
»Und was, wenn ich es nicht tue?«, erwiderte die Zarin scheinbar ungerührt.
»Dann, Herrscherin aller Reußen«, dröhnte der Bass des Sibiriers von den mit Bernsteinpaneelen, Spiegelpilastern und Steinmosaikbildern geschmückten Wänden wider, »wird der Zorn Gottes auf dieses Land herniederfahren, und es wird ein Blutbad geben, wie es die Welt bis dato nicht gesehen hat.« Die pechschwarzen Augen des Mönchs verengten sich, und sein Blick, durchdringender denn je, schien die 35-jährige Herrscherin förmlich zu durchbohren. »Millionen werden elendiglich zugrunde gehen, der Leib von Mütterchen Russland wird auf das Widerwärtigste geschändet werden. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, und ein Feuersturm wird über das Land hinwegfegen, schlimmer als alles, was sich menschliche Fantasie auszumalen vermag.«
»Und wann wird es so weit sein?«, spöttelte Orlow und sah sich Beifall heischend um. »Damit ich Reißaus nehmen kann, bevor die Welt untergeht.«
Die erhoffte Wirkung seiner Worte blieb indes aus, und es gab nicht wenige, die sich spontan bekreuzigten. Doch das war erst der Anfang. Kaum waren Orlows Worte verklungen, war in der Ferne dumpfes Donnergrollen zu hören. Wie um den Spötter Lügen zu strafen, flog plötzlich eines der Fenster auf. Ein Windstoß fegte durch den Saal, mit einer Heftigkeit, dass er Dutzende von Kerzen zum Erlöschen brachte. Ein dämonisches Lächeln im Gesicht, sah sich der Sibirier triumphierend um. Dann reckte er sein Brustkreuz in die Höhe und setzte seine Tirade fort: »Und es wird kommen der Tag«, verkündete er, den Blick auf die wie versteinert wirkende Zarin geheftet, »an dem das Geschlecht, dem du, Herrscherin aller Reußen, angehörst, vom Angesicht der Erde getilgt werden wird, und mit ihm alles, was an dich und deinesgleichen erinnert. Und siehe, der Letzte aus dem Stamm der Romanows wird ein qualvolles Ende erleiden, und mit ihm alle, die sich um seinen Thron scharen werden. Aus dem Aschehaufen, den dein verderbtes Geschlecht hinterlässt, wird sich ein Tyrann erheben, schlimmer als alle Despoten, welche die Geschichte kennt. Neues, unermessliches Leid wird kommen über unser schwer geprüftes Land, aus dem Westen, von wo aus jene Horden, schlimmer noch als die Tataren, wie Luzifers Heerscharen über unser Land herfallen werden, mordend, sengend, plündernd und alle jene zermalmend, die sich ihnen in den Weg stellen. Nichts wird mehr so bleiben, wie es war, nicht einmal dieses Zimmer, welches der Beutegier der fremden Barbaren zum Opfer fallen wird. Hast du gehört, Herrscherin der Reußen? Nicht einmal dieses Kabinett, in dem du dich niedergelassen hast, um dem Laster, dem Müßiggang und der Sünde zu frönen.«
»Damit du es weißt, Mönch –«, entrüstete sich die Zarin und sprang erregt auf, »solange ich die Geschicke dieses Landes lenke, wird das, wovon du sprichst, ein Hirngespinst bleiben. Kein Widersacher, und sei er auch noch so mächtig, wird es je wagen, Hand an Mütterchen Russland zu legen. Und selbst wenn, wird dieser Jemand der gerechten Strafe nicht entgehen. Niemand wird die Kühnheit besitzen, die geheiligten Rechte der Romanows infrage zu stellen, von nun an bis in Ewigkeit. Keine Macht der Welt wird je imstande sein, unsere geheiligte Muttererde zu entweihen oder dieses Kleinod, welches ich, Jekaterina, geschaffen habe, in ihren Besitz zu bringen. Diese Ländereien, dieses Schloss und vor allem dieses Zimmer, mein liebstes Domizil auf Erden – sie werden auf ewig russisch bleiben, compris[7]?«
Einmal in Rage, hatte Jekaterina, Herrscherin aller Reußen, sowohl ihre guten Manieren als auch ihre sie entgeistert anstarrende Entourage vergessen. Außer sich vor Empörung, stürzte sie schließlich ihren Tokaier hinunter, doch als sie sich wieder beruhigt hatte und ihr Blick denjenigen des Mönchs suchen wollte, war ihr Kontrahent bereits verschwunden.
2
Zarskoje Selo[1], am Morgen des 22. Tages im Monat April
Mein teurer Gemahl!
Um Euch, der Ihr fernab von hier auf unserem Gut bei Rostow weilt, über die Geschehnisse an Ihrer Majestät Hof auf dem Laufenden zu halten, im Folgenden einige Zeilen von mir.
Ich hoffe, Ihr befindet Euch wohl und bei guter Gesundheit, was ich von mir, die ich aufgrund des jüngsten Skandals immer noch zutiefst erschüttert bin, bedauerlicherweise nicht behaupten kann. Kommt mir doch das, was sich am gestrigen Abend in Ihrer Majestät Gegenwart zugetragen hat, so ungeheuerlich vor, dass selbst jetzt, etliche Stunden später, die Feder in meiner Hand ihren Dienst zu versagen droht. Seit ich in Ihrer Majestät Dienste getreten bin, habe ich etwas Derartiges noch nicht erlebt, und ich bin mir sicher, dass mir die hochwohlgeborenen Damen und Herren, die Zeuge jener höchst unglückseligen Vorkommnisse gewesen sind, darin beipflichten werden.
Doch der Reihe nach. Zunächst hatte es den Anschein, dass der Abend, über den ich Euch berichten möchte, den gewohnten Verlauf nehmen würde. Nach dem Gottesdienst und dem anschließenden Souper, bei dem sich Ihre Majestät mir gegenüber höchst gnädig zeigte, bat uns die Zarin ins Bernsteinkabinett, um den Abend bei Zigeunermusik, Tokaier und einer Partie Whist[2], ihrem erklärten Lieblingsspiel, ausklingen zu lassen. Mit von der Partie waren unter anderem Grigori Grigorjewitsch Orlow, von dessen Liaison mit unserer gnädigen Herrin allerlei gemunkelt wird, und – Gott sei’s geklagt! – Vater Dmitri, ein hergelaufener sibirischer Starez[3], über den in Sankt Petersburg die wildesten Gerüchte kursieren und der bereits mehrere handfeste Skandale verursacht hat. Zu meinem und dem Leidwesen des erlauchten Kreises, welcher sich im Bernsteinzimmer zusammenfand, war dies auch am gestrigen Abend der Fall. Allein der Geruch, den jener Wandermönch aus den Gefilden jenseits des Uralgebirges verströmte, hätte ausgereicht, uns alle in die Flucht zu schlagen, und als sei dies immer noch nicht genug, überhäufte er Jekaterina Alexejewna[4] mit Flüchen und benahm sich derart ungebührlich, dass die anwesenden Kavaliere ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten mussten, damit es nicht zu einem neuerlichen Eklat kam. Allein Ihrer Majestät Selbstbeherrschung war es zu verdanken, dass jener der Gosse entstiegene Schweinehirt ungeschoren davonkam, wenngleich sie sich, wie deutlich zu erkennen war, in nicht geringem Maße echauffierte.