»Grabschändung.« Untermalt von einem langgezogenen Knurren seines Verdauungsorgans, sackte der Kopf von Peters nach vorn, und was als Frage gedacht war, hörte sich wie ein Echo an.
»Einfach unerhört, so etwas! Es gibt Leute, die machen wirklich vor nichts halt.«
Bass erstaunt, sahen sich Sydow und Peters an. Erst als sie sich halbwegs sicher waren, keiner Halluzination erlegen zu sein, wanderte ihr Blick zur Tür.
»Kopf hoch, ihr beiden!«, schnarrte Luise von Zitzewitz, die rechte Hand auf ihren Stock gestützt. »Ihr werdet das Kind schon schaukeln«, und fügte mit der Andeutung eines Lächelns hinzu: »Bevor ihr eure Pflicht tut, wartet noch eine kleine Stärkung auf euch – Sie haben bestimmt Hunger, Herr Doktor Peters, oder?«
Drei
Berlin / Hyannis Port, Massachusetts / Sotschi, UdSSR
(17.06.1953)
Nibelungentreue
Hohenlychen / Mark Brandenburg
(07.03.1945)
›Es herrscht bei Himmler eine sehr nette, bescheidene und absolut nationalsozialistische Atmosphäre, was außerordentlich wohltuend wirkt. Man kann sich nur freuen, dass wenigstens bei Himmler noch der alte nationalsozialistische Geist vorherrschend ist.‹
Aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels unter dem Datum vom 8. März 1945
14
Kurhotel Hohenlychen | 17.45 h
»Auf den frischgebackenen Ritterkreuzträger, SS-Standartenführer Hans-Hinrich von Oertzen!«, schnarrte der meistgefürchtete Scherge Adolf Hitlers und prostete den anwesenden Stabsoffizieren zu. Auf die Tatsache, dass die Rote Armee die Oder längst überschritten und der Fall von Berlin möglicherweise nur noch eine Frage von Wochen war, verschwendete der 44-jährige Uniformträger mit den kahl geschorenen Schläfen und der eher bescheidenen Körpergröße von 1,71 Meter keinen Gedanken. »Ein dreifaches Sieg …!«
Durch den Speisesaal des um die Jahrhundertwende errichteten Backsteingebäudes mit dem markanten Zinnengiebel hallte ein vielstimmiges Echo, gefolgt vom Klang zusammengeschlagener Hacken, dem Klirren der Sektgläser und den üblichen Lobhudeleien. Der Offizier in Schwarz, an den die Glückwünsche gerichtet waren, nahm sie ohne erkennbare Gefühlsregung hin. Im Innern platzte der 27-jährige Prototyp eines SS-Angehörigen jedoch vor Stolz. Auf diesen Moment hatte der Spross aus uradeligem Hause seit Jahren hingearbeitet. Er hatte sein Architekturstudium geschmissen, mit seinen Eltern gebrochen, an der Ostfront die Drecksarbeit gemacht, in brenzligen Situationen den Kopf hingehalten. Jetzt, wo es aufs Ganze ging, wollte er endlich den verdienten Lohn kassieren. Die Flinte ins Korn zu werfen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, erst recht nicht, dass das Dritte Reich dem Untergang geweiht sein könnte. So leicht würde sich der Führer von diesen bolschewistischen Horden nicht in die Flucht schlagen lassen. Davon war er heute, auf dem Höhepunkt seines bisherigen Lebens, mehr denn je überzeugt. Führer befiehl – wir folgen!
»Na, von Oertzen?«, drang plötzlich die Stimme seines Mentors an sein Ohr, nach Hitler der mächtigste Mann im Reich. »Zufrieden mit meiner kleinen Ansprache?«
»Aber selbstverständlich, Reichsführer!«, erwiderte Hans-Hinrich von Oertzen in zackigem Ton, die Hände an der Hosennaht. »Vielen Dank für Ihre Mühe.«
»Ich habe zu danken«, stellte Heinrich Himmler klar, von den Folgen einer Angina immer noch nicht ganz genesen. Die Brillengläser, auf die der extrem kurzsichtige Reichsführer-SS, Innenminister und Chef der deutschen Polizei seit jeher angewiesen war, blinkten kurz auf, und ein nervöses Zucken, unter dem er zuweilen litt, huschte über sein fliehendes Kinn. »Wie heißt es so schön«, sinnierte er mit Blick auf das Ritterkreuz, das er seinem Zögling an den Kragen geheftet hatte, »›Unsere Ehre heißt Treue‹.«
»Bis in den Tod, Reichsführer!«, ergänzte von Oertzen, sowohl verbal als auch vom Erscheinungsbild her geradezu das Musterbeispiel eines SS-Offiziers. Blondes, kurz geschorenes Haar, kantiges, willensstarkes Profil, durchdringender Blick aus hellblauen Augen. Und im Gegensatz zu Himmler natürlich Gardemaß. So und nicht anders wollten Hitler, der Reichsführer und die Goebbels’sche Propaganda ihn haben. Rücksichtslos, gewissenlos, skrupellos. Der Sache des Führers bedingungslos ergeben.
Wenn nötig, bis in den Tod.
»Jetzt aber mal langsam, junger Mann.« Ein flüchtiges Lächeln im Gesicht, fuhr Himmler über den frisch rasierten, nach dem Vorbild seines Führers zurechtgestutzten Bart. »So schnell schießen die Preußen nicht.«
Von Oertzen machte ein verständnisloses Gesicht. »Wer soll die bolschewistischen Untermenschen denn aufhalten? Wer, wenn nicht wir, die SS?«
Die Stirn in Falten, wich Himmler dem Blick seines Musterschülers aus und kratzte sich an der Braue. »Ihr Kampfgeist in allen Ehren, mein Junge«, antwortete er, löste sich aus dem Kreis seiner Getreuen und nahm seinen Zögling beiseite. »Aber im Moment habe ich etwas Wichtigeres mit Ihnen vor.«
Der knapp 1,90 Meter große, überaus kräftige und mit rascher Auffassungsgabe gesegnete SS-Standartenführer schlug die Hacken zusammen und nahm Habachtstellung ein. »Stehe zur Verfügung, Reichsführer!«, stieß er mit markiger Stimme hervor. »Ganz gleich, was Sie befehlen.«
»Daran, mein lieber von Oertzen, hege ich auch nicht den geringsten Zweifel«, flüsterte Himmler wie im Selbstgespräch und trat an das Panoramafenster, von dem man einen Blick in den Park werfen konnte. Der Frühling ließ auf sich warten, ein Regenschauer löste den nächsten ab. Und das schon seit Tagen. Keine Spur mehr von der Betriebsamkeit früherer Tage, wo sich Parteigrößen wie Heß und Bormann hier reihenweise die Klinke in die Hand gegeben hatten. Das Kurhotel war verwaist, das Land der Seen, Alleen und Kiefernwälder in Erwartung des nahenden Sturms aus dem Osten wie ausgestorben.
»Ebenso wenig wie an Ihrer rückhaltlosen Treue gegenüber dem Führer«, fuhr Himmler fort. Sichtlich geschwächt, schob er seine Uniformmütze in den Nacken, als wolle er den Totenkopf, der an seinem schwarzsamtenen Zierband prangte, aus dem Blickfeld des jugendlichen Durchhaltefanatikers befördern. »Er und ich verlassen uns auf Sie.«
»Der Führer?«, echote von Oertzen, begleitet von heftigen Regenböen, die von außen gegen die Scheibe brandeten. Mehr brachte er angesichts des Schauers, der ihn bei der Erwähnung Hitlers überkam, nicht über die Lippen.
»Stehen Sie bequem, von Oertzen«, presste Himmler, Opfer eines neuerlichen Schweißausbruchs, mühsam hervor. Die Frage, ob dieser ein Produkt seiner Angina oder der Vorahnung auf die kommenden Wochen und Monate war, schob er geflissentlich beiseite. »Und merken Sie sich eins. Über den Auftrag, mit dem ich Sie im Folgenden betrauen werde, dürfen Sie niemals auch nur ein Wort verlauten lassen. Haben wir uns verstanden, junger Mann?«
»Jawohl, Reichsführer.« Trotz gegenteiliger Bemühungen schien von Oertzen weiterhin wie erstarrt, den in Marmor gehauenen Heldengestalten eines Arno Breker zum Verwechseln ähnlich.
»Hören Sie gut zu, von Oertzen«, forderte Himmler ihn auf, während er die schweißglänzende Stirn betupfte. »Wie Sie sicherlich wissen, war der Führer gezwungen, in letzter Zeit umfangreiche Frontbegradigungen vorzunehmen. Im Zuge dieser Rückzugsbewegungen, vor allem im Hinblick auf das Wüten der bolschewistischen Berserker, wird es nötig sein, wertvolles Kulturgut vor besagten asiatischen Untermenschen in Sicherheit zu bringen. Können Sie mir folgen, Standartenführer?«
Und ob er es konnte. Berstend vor Stolz, erstarrte von Oertzen in seiner Pose. So nachhaltig, dass er beinahe das Nicken vergaß.