»Gut zu wissen«, gab Sydow zurück, auf den die Lässigkeit, die der tipptopp gekleidete sowjetische Geheimdienstoffizier an den Tag legte, wie eine Provokation wirkte. Um den einzigen Trumpf, den er derzeit im Ärmel hatte, nicht zu verspielen, verkniff er sich jeglichen Kommentar und warf einen Blick auf einen der beiden T-34-Panzer, die den Zugang zum sowjetischen Ehrenmal flankierten. So früh am Morgen war außer der Ehrenwache, die in stocksteifer Haltung auf der Stelle verharrte, kein Mensch zu sehen. Mit ein Grund, weshalb sein Gesprächspartner ausgerechnet diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte, jedoch beileibe nicht der einzige. Das Ehrenmal war eine sowjetische Exklave, Vorsicht bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. »Die Frage ist nur, ob Sie sich mit denen anlegen wollen.«
Juri Andrejewitsch Kuragin, Liebhaber maßgeschneiderter Anzüge, kubanischer Zigarillos und französischer Haute Cuisine, wog das dunkelhaarige Haupt, welches ihm den Spitznamen ›Kaukasier‹ beschert hatte, und schwieg sich geraume Zeit aus. »Nicht unbedingt«, gestand der Oberstleutnant des MGB[31] schließlich mit übernächtigter Miene ein, wobei sich Sydow nicht zum ersten Mal fragte, durch welche Art von Familienbande ein in Leningrad geborener Geheimdienstoffizier wie Kuragin zu einem ausgeprägt südländischen Teint, dunklen Augen und dichten schwarzen Brauen gekommen war. »Es sei denn, man zwingt uns dazu.«
Die Skepsis, mit der Sydow die Aussage des Oberstleutnants aufnahm, war weder zu übersehen noch zu überhören. »Sie glauben doch wohl nicht, dass die Amis hinter dem ganzen Schlamassel da drüben stecken?«, begehrte er mit hochgezogenen Brauen auf und wies mit dem Daumen über die rechte Schulter. »Im Ernst, Kuragin, auf so eine Idee kann man ja wohl nicht kommen. Die Genossen brauchen was zwischen die Kiemen, und zwar dringend. Sonst kann Ulbricht den Laden dichtmachen. Wie viele von denen bereits die Kurve gekratzt haben, brauche ich Ihnen bestimmt nicht zu verklickern.«
Kuragin schüttelte den Kopf. »Nein, brauchen Sie nicht«, bekräftigte er, den Blick nach vorn gerichtet, wo die Siegessäule aus dem morgendlichen Dunst emporragte. Ein weiterer heißer Tag stand bevor, und das gleich in mehrfacher Beziehung. »Und wissen Sie, was? In letzter Zeit stelle ich mir immer häufiger die Frage, ob unsere deutschen Genossen überhaupt so etwas wie Fingerspitzengefühl besitzen. Oder ob sie nicht schon längst jeglichen Kredit bei der Bevölkerung verspielt haben. Falls ja, ist guter Rat teuer.«
Im Begriff, seine Sicht der Dinge darzulegen, überlegte Sydow es sich anders. Er wollte nicht mehr Öl ins Feuer gießen als nötig, nicht jetzt, wo es weitaus wichtigere Dinge zu besprechen gab.
Kuragin schien es nicht zu bemerken. »Soweit also der Tragödie erster Teil«, sprach er in gedämpftem Ton, trotz alledem wachsam und vor möglichen Beobachtern auf der Hut. »Titeclass="underline" ›Die Deutschen und der Sozialismus‹.«
»Und der zweite?«
»Der zweite, mein lieber Kommissar, trägt einen gänzlich anderen.«
»Welchen?«
Kuragin lächelte matt. »Wie wär’s mit ›Verhasste Freunde‹?«, schlug er vor. »Keine schlechte Idee, was denken Sie, Herr Kommissar?«
»Dass der Laden da drüben jede Sekunde hochgehen kann«, ließ Sydow bärbeißig verlauten. »Schneller, als wir beide es uns möglicherweise vorstellen können.«
»So, meinen Sie.«
Sydow nickte und wich dabei dem forschenden Blick seines Nebenmannes aus.
»Ein Grund mehr, unseren kleinen Plausch nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen!«, verkündete Kuragin resolut und straffte sich. »Was liegt an, Herr Kommissar?«
»Ich habe einen Mord aufzuklären. Genau genommen, sogar zwei.«
»Ihr Beruf, Herr Kommissar, oder?«
»Stimmt. Zumindest, was einen der beiden Morde angeht, bin ich jedoch am Ende mit meinem Latein.« Sydow hielt kurz inne. »Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Kuragin biss allerdings nicht an. »Wem sagen Sie das, Herr Kommissar!«, heuchelte er, wohl wissend, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Kuragin. Dringend.«
»Helfen – ich Ihnen? Wie?«
»Indem Sie mir Informationen verschaffen, an die ich auf herkömmliche Art und Weise nicht rankomme.«
Kuragin pfiff durch die Zähne und bewegte tadelnd den Zeigefinger. »Ich muss doch sehr bitten, Herr Kommissar«, spöttelte er und fuhr genüsslich über seinen Oberlippenbart, »was wird der Herr Polizeipräsident dazu sagen, wenn Sie einen Offizier des sowjetischen Geheimdienstes um Hilfe bitten. Wenn das rauskommt, können Sie Ihre Karriere an den Nagel hängen.«
»Und Sie die Ihre.«
Kuragins Miene wurde skeptisch. »Und was macht Sie so sicher, dass ich Ihnen meinen brüderlichen Beistand gewähren werde?«
»Die Tatsache, dass ich Ihnen vor fünf Jahren einen der meistgesuchten Kriegsverbrecher der Welt ans Messer geliefert habe. Eine Hand wäscht bekanntlich die andere.«
»Abgesehen von der Frage, welches Anliegen Sie haben, Herr Kommissar«, sprach Kuragin mit unbewegter Miene, kurbelte das Fenster herunter und zündete sich eine Montecristo an, »ist Ihnen hoffentlich klar, dass ich sibirische Gastfreundschaft genießen werde, wenn ich mit einem Westberliner Kriminalkommissar gemeinsame Sache mache.«
»Kriminalhauptkommissar, wenn ich bitten darf.«
Kuragin gab ein belustigtes Schnauben von sich. »Immer noch der Alte, wie ich sehe«, stellte er fest und schnippte die Asche zum Fenster hinaus. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Soll ich Ihnen etwas verraten, Herr Kommissar? Etwas, das Sie womöglich in Erstaunen versetzen wird?«
»Nur zu.«
»Im Verlauf der letzten fünf Jahre – also nicht erst seit gestern – bin ich zu der wohlfundierten Überzeugung gelangt, dass wir hier auf verlorenem Posten stehen.« Kuragin inhalierte und ließ den Rauch durch den linken Mundwinkel entweichen. »Ob 10, 20, 30 oder mehr Jahre: der Tag, an dem wir unsere Koffer packen müssen, wird kommen. So sicher wie das Amen in der Kirche. Wie pflegte der Genosse Stalin zu sagen: ›Der Kommunismus passt zu den Deutschen wie der Sattel zu einer Kuh.‹ Zitat Ende.«
»Und zu Ihnen?«
»Wusste ich’s doch, dass Sie mir diese Frage stellen würden, Sydow!«, rief Kuragin aus. »Wie ich Sie kenne, haben Sie die passende Antwort längst parat.« Der MGB-Offizier räusperte sich und hob die Stimme: »Frage an Radio Eriwan: Gibt es einen Grund, weshalb man seit mehr als 15 Jahren für den sowjetischen Geheimdienst tätig sein kann?«
»Im Prinzip ja. Falls man vorhat, seinem Land zu dienen. Und nicht einem blutrünstigen Diktator.«
»Kommt Ihnen bekannt vor, nicht wahr, Herr Kommissar?«
Sydow nickte, obwohl er an die Zeit, in der Deutschland von den Nazis regiert und er, Tom Sydow, Kripo-Beamter geworden war, lieber nicht zurückdenken wollte. »Heißt das, dass Sie mir …«
»Nur keine Scham, Herr Kriminalhauptkommissar, worum handelt es sich?«
»Um die Identifizierung eines Toten, den wir gestern Abend aus der Spree gefischt haben«, antwortete Sydow, bemüht, die Worte möglichst sorgfältig zu wählen. »Gut möglich, dass die Tat … dass er vom Territorium der DDR aus in die Spree geworfen wurde.«
»Alles, was recht ist, Herr Kommissar, aber ein bisschen mehr darf es schon noch sein.«
»Es gibt Indizien, dass der Mann Insasse der Psychiatrischen Abteilung der Ostberliner Charité gewesen sein könnte.«
»Wenn dem so ist, warum wenden Sie sich in diesem Fall nicht an Ihre Ostberliner Kollegen?«
Sydow seufzte gequält. »Sie wissen so gut wie ich, dass ich das gar nicht erst zu versuchen brauche.«
»Sonst noch was?«