Eine volle Stunde später, kurz vor Altenburg, brachte Kempa den Mut auf, erneut eine Frage zu stellen. »Was ist eigentlich mit den Lkw-Fahrern, Herr Standartenführer?«, murmelte er, den Blick in den Rückspiegel gerichtet. »Ich meine, wenn wir an unserem Bestimmungsort angekommen sind.«
Die Neugierde sollte ihm indes vergehen.
Für alle Zeiten.
»Die drei Gefreiten?«, griff von Oertzen die Frage erst auf, als der Dresdener die Hoffnung auf eine Antwort fast schon begraben hatte. Er tat dies in einem Tonfall, den Kempa selbst bei ihm, dem Treusten der Paladine Himmlers, beim besten Willen nicht erwartet hätte. »Nun, einmal an Ort und Stelle, werden wir nicht umhin kommen, sie zu liquidieren.«
»Zu liquidieren?«
»Richtig«, bekräftigte von Oertzen, nicht einmal die Spur einer Regung im Gesicht. »Je weniger Mitwisser, desto besser.«
20
Berlin-Lichtenberg, Ministerium für Staatssicherheit der DDR in der Normannenstraße | 07.30 h
»Und die Lage im demokratischen Teil von Berlin?«, polterte Erich Mielke und warf seinem Büroleiter einen jener Blicke zu, vor denen das ganze Ministerium zitterte.
»Äußerst besorgniserregend«, räumte der schneidige junge Leutnant der Staatssicherheit unumwunden ein und machte erst gar nicht den Versuch, die Lage zu beschönigen. »Vorsichtig ausgedrückt.«
»Auf gut Deutsch: total beschissen!«, platzte Mielke heraus, einmal mehr überzeugt, von lauter Dilettanten umgeben zu sein. Um zu erkennen, dass die Tage der DDR gezählt waren, musste man wirklich nicht viel Grips in der Birne haben. Im Hinblick auf den drohenden Kollaps glichen sich die Spitzelberichte, Lagebeurteilungen und Depeschen, die sich auf seinem Schreibtisch häuften, nämlich aufs Haar. Die Lage war nicht nur ernst, sondern beinahe hoffnungslos. »Und wo genau ist die Kacke am Dampfen?«
»Vor allem am Strausberger Platz«, antwortete der ehemalige FDJ-Aktivist in dem Bestreben, dem zu erwartenden Temperamentsausbruch die Spitze zu nehmen. Dagegen war hier niemand gefeit, nicht einmal der Minister selbst. »Ersten Berichten unserer V-Leute zufolge gehen die Demonstranten dort bereits in die Tausende.«
»Demonstranten?«, echote Mielke, auf dem besten Wege, die Befürchtungen seines Büroleiters Wirklichkeit werden zu lassen. »Kann es sein, dass Sie ein bisschen Deutsch-Nachhilfe brauchen? Diversanten, Konterrevolutionäre und kriminelle Elemente zuhauf, und Sie Grünschnabel haben nichts Besseres zu tun, dieses Gesindel als Demonstranten zu bezeichnen. Das haut ja wohl den stärksten Kosaken um.« Mielke hieb mit der flachen Hand so heftig auf den Tisch, dass es weit und breit zu hören war. »Merken Sie sich eins, Sie Anfänger: Wenn Sie es hier zu was bringen wollen, drücken Sie sich gefälligst anders aus. Haben wir uns verstanden, Genosse?«
»Selbstverständlich, Genosse Miel…«
»Sonst noch was?«
»So leid es mir tut – ja.«
»Nun reden Sie schon, Mann!«
Noch eine Spur bleicher als sonst, senkte der ehemalige Schlosser, der mit seinen 28 Jahren eine wahre Blitzkarriere hinter sich hatte, mit betretener Miene das Haupt. »Wir haben ihn aus den Augen verloren, Genosse«, bekannte er mit schlotternden Knien, als könne er das Unheil, das sich über ihm zusammenbraute, mithilfe dieser vagen Aussage aufhalten. Ein Blick auf Mielkes grimmige Miene genügte, um seine Beichte schleunigst zu präzisieren: »Rembrandt, Genosse Minister, es geht um Rembrandt. Trotz der von Ihnen angeordneten Observierung ist es ihm offenbar gelungen, sich in den Westen abzusetzen. Und das vor den Augen der Volkspolizei.« Der sichtlich geknickte Leutnant schnappte nach Luft. »Laut Aussage der betreffenden Streifenbeamten muss der Grenzübertritt in einem Wagen der amerikanischen Botschaft erfolgt sein.«
»Und die mit seiner Beschattung beauftragten Genossen?«, schnaubte Mielke, kurz vor einem neuerlichen Wutausbruch, der den vorigen weit in den Schatten zu stellen drohte. »Was ist mit denen?«
»Aufgrund des Gedränges auf dem Bahnhof war die betreffende Genossin leider nicht imstande, Rembrandts Observierung wie geplant …«
»Mit anderen Worten – die dämliche Pute hat ihn aus den Augen verloren.«
Mielkes Büroleiter senkte den Blick. »In der Tat, Genosse.«
»Wenn wir diese Konterrevolutionäre hinter Schloss und Riegel gebracht haben, Sie Tollpatsch, wird es hier ein Großreinemachen geben, das sich gewaschen hat!«, spie Mielke hervor und sprang mit krebsrotem Gesicht auf. Zur Erleichterung des Büroleiters, der mit einer unwirschen Handbewegung abgewimmelt wurde, klingelte in diesem Moment das Telefon.
Als sich die Tür hinter dem sichtlich erleichterten Blondschopf schloss, hob Mielke den Hörer ab. Er sollte sich noch mehr aufregen. »Ja, bin ich hier von lauter Trotteln umgeben?«, schrie er in den Hörer, den er am liebsten sofort wieder auf die Gabel geknallt hätte. »Was denkt sich dieser Dilettant von der HA[33] VIII eigentlich? Ich hab doch wahrhaftig Besseres zu tun, als mich mit einem x-beliebigen IM[34] … Was, das Bernsteinzimmer? Na gut, stellen Sie durch.« Mit einem Fluch, der vor Obszönität nur so strotzte, ließ sich Mielke in seinen Schreibtischsessel sinken und nippte an seiner morgendlichen Tasse Tee. Erst Laurin, zu dem der Kontakt abgerissen war, dann Rembrandt, dieser mit allen Wassern gewaschene Verräter. Und zu guter Letzt das Bernsteinzimmer. Ausgerechnet jetzt. In einer Zeit, in der die Konterrevolutionäre ihm keine ruhige Minute gönnten. Nun ja, vielleicht würde er bei den Russen Eindruck damit schinden können, vorausgesetzt, er bekäme heraus, wo genau dieses Gerümpel abgeblieben war. Aber genau das war das Problem. Als Versteck kamen mindestens ein Dutzend Orte infrage, angefangen bei Bergwerken bis hin zu alten Stollen, Gruben und so weiter. Die Suche würde eine Menge Zeit kosten. Und vor allem das, woran es der DDR seit jeher mangelte: Geld.
Es sei denn, er bekäme heraus, wo genau sich das Zimmer befand.
»Mielke hier.«
Minuten später, als er den Bericht des Informanten bereits zum dritten Mal gehört hatte, konnte es Erich Mielke immer noch nicht glauben. »Der MGB?«, rätselte er und überlegte hin und her, was von der Sache zu halten war. »Sind Sie sich da wirklich sicher?«
»Hundertprozentig«, beteuerte der Anrufer, der den wenig einfallsreichen Decknamen ›Sigmund‹ trug. »Schließlich hat er mir seinen Ausweis gezeigt.«
»Und wie heißt der gute Mann?«
»Das … das kann ich leider nicht sagen, Genosse«, räumte die Stimme am anderen Ende der Leitung ein. »Kyrillische Buchstaben sind mir nicht …, ich kann nämlich kein Russisch, müssen Sie wissen.«
»Auch das noch.« Viel zu niedergeschlagen, um sich über irgendetwas aufzuregen, bettete Mielke seine Stirn in die Fläche der rechten Hand und brütete dumpf vor sich hin. Erst ein verlegenes Räuspern seines Gesprächspartners, von Beruf Psychiater und Stationsarzt in der Charité, rüttelte ihn wieder wach. »Dann eben noch mal von vorn!«, schnaubte er. »Gestern früh, genauer gesagt kurz vor fünf, begeht einer Ihrer Patienten im Beisein eines Offiziers im besonderen Einsatz Selbstmord. Ein Patient, der zuvor über Jahre hinweg und insbesondere während der letzten Woche auf jede nur erdenkliche Weise unter Druck gesetzt, verhört und sogar … und sogar mithilfe körperlicher Gewalt gezwungen worden ist, nähere Angaben über den Verbleib des Bernsteinzimmers zu machen. Und das ohne meine Kenntnis oder ausdrücklichen Befehl. Trifft das zu, Herr Doktor?«
»Jawohl, Genosse.«
»Woraufhin Sie und ein Krankenpfleger, der mit besagtem Benjamin Kempa auf vertrautem Fuß gestanden zu haben scheint, keinen anderen Ausweg wussten, als seinen Leichnam in der Spree … Moment mal, bleiben Sie kurz dran!«
Wie von Furien gepackt, legte Mielke den Hörer beiseite und wühlte die Oberfläche seines Schreibtischs durch. Die Ausgabe der Morgenpost, auf die er es abgesehen hatte, war schnell gefunden, ebenso der Artikel auf Seite drei. »Berlin-Tiergarten. Vertraulichen Informationen zufolge wurde am gestrigen Abend unweit von Schloss Bellevue der Leichnam eines circa 35 Jahre alten Mannes aus der Spree geborgen«, murmelte er vor sich hin, wobei er seinen Informanten gänzlich vergaß. Und weiter: »Nach Angaben aus Polizeikreisen wurde Kriminalhauptkommissar Tom von Sydow mit der Durchführung der Ermittlungen betraut.« Von Sydow, aha. Auch noch ein Aristokrat!, schoss es Mielke durch den Kopf, während er mit grimmiger Miene zur Tür stürmte, sie aufriss und sich vor seinem Büroleiter aufbaute.