Er brauchte nicht lange zu suchen.
Die Häftlingskleidung, die er dort vorfand, passte wie angegossen. Rembrandt atmete tief durch. In diesem Aufzug würde er niemandem auffallen, und wenn, würde er eben einen auf Grimms Märchen machen. Groß anzustrengen brauchte er sich da nicht. Er war der geborene Schauspieler, imstande, seine Rollen nach Belieben zu wechseln. Hatte er diesen Schlamassel hier erst hinter sich, würde man weitersehen. Insbesondere bezüglich der Frage, wie er an den fehlenden Teil der Karte …
Der Fluch, den Rembrandt in diesem Moment ausstieß, war mit Abstand der vulgärste, der ihm am heutigen Tag über die Lippen gekommen war. Ohne einen weiteren Blick für den sündhaft teuren Zweireiher, den er achtlos in die Ecke geschleudert hatte, warf Rembrandt die Tür der Kleiderkammer hinter sich zu und stürmte in Panik davon. Als er das Büro des Anstaltsleiters erreichte, waren die Schritte ganz nah. Noch hätte er umdrehen, in die entgegengesetzte Richtung davonstürmen, sein Heil in der Flucht suchen können. Dass er es nicht tat, hatte mit einem Mangel an Intelligenz, Kaltschnäuzigkeit oder Selbstbeherrschung nichts zu tun. Die Tatsache, dass er die Tür aufriss, ins Zimmer stürmte und die Karte an sich raffte, die noch ausgebreitet auf dem Schreibtisch lag, war einzig und allein dem Umstand zuzuschreiben, dass SS-Obersturmbannführer Curt Holländer alias Rembrandt von hemmungsloser Gier gepackt worden war.
»Wohin so eilig, wenn man fragen darf?«
Rembrandt erstarrte, die zusammengefaltete Karte nach wie vor in der Hand. Um herauszufinden, zu wem die höhnische Stimme hinter seinem Rücken gehörte, brauchte er sich nicht einmal umzudrehen. Ihren Besitzer kannte er zur Genüge.
»Lass die Waffe stecken, Kamerad, sonst wird es dir leidtun«, drohte Jensen, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und zielte mit der Dienstpistole, die er einem Wärter aus der Hand gerissen hatte, auf Rembrandts Hinterkopf. »Keine Bewegung, sonst knallt’s. So, du arroganter Fatzke, jetzt wirst du hübsch die Hände hochnehmen und mir das, was du dir unter den Nagel reißen wolltest, nach hinten reichen. Das kann der gute alte Ole gut gebrauchen.«
Rembrandt tat, was von ihm verlangt wurde, gab sich aber nicht geschlagen. »Kannst du mir verraten, was du damit anfangen willst?«, zischte er, nachdem Jensen die Karte an sich genommen hatte. »Ohne fremde Hilfe brauchst du mit dem Buddeln gar nicht erst anzufangen. Du weißt ja selbst, wie wir uns damals den Arsch aufgerissen haben. Und das zu viert. Oder muss ich dir die Schinderei erst wieder in Erinnerung rufen? Um an das Bernsteinzimmer ranzukommen, brauchst du mindestens ein halbes Dutzend Helfer. Und Bagger, Ole, schweres Gerät.« Seiner Sache absolut sicher, drehte sich Rembrandt gemächlich um. »Und vor allem«, flüsterte er mit ausgestreckter Hand, bereit, das Papier wieder in Empfang zu nehmen, »vor allem, mein lieber Ole, brauchst du eins.«
»Genug Sachverstand, um an den Schatz im Berge ranzukommen. Und natürlich dich.«
»Du hast es erfasst«, hauchte Rembrandt mit gehässiger Miene, »und darum macht der gute Junge jetzt keine Mätzchen mehr und überlässt mir schleunigst die Kar…«
»Setz dich, Holländer!«
»He, was soll das, ohne mich bist du …«
»Hinter den Schreibtisch, aber ein bisschen plötzlich. Und die Hände oben lassen, kapiert?«
»Damit kommst du nicht durch, Jensen. Hast du dich überhaupt mal gefragt, was du mit dem Plunder anfangen willst? Vorausgesetzt, du schaffst es, die Kisten überhaupt auszubuddeln? Glaub mir, am Ende wirst du zwischen sämtlichen Stühlen sitzen. Wenn die Stasi Wind von der Sache kriegt, kannst du dir gleich die Kugel geben. Von den Russen, denen wir das Zimmer geklaut haben, gar nicht erst zu reden. Und wer weiß«, fügte er genüsslich hinzu, »ob nicht auch die Amis mit von der Partie sind.« Holländer ließ sich entspannt in den Sessel sinken. »Komm schon, Ole, nimm endlich Vernunft an«, drängte er, gerade so, als habe er es mit einem ungezogenen Pennäler zu tun. »Und noch eins. Ich habe Freunde, einflussreiche Freunde. Nee, mein Junge, nicht nur bei der Stasi. Man soll nicht alles Geld, das man hat, auf einen einzigen Gaul setzen. Alte Zocker-Weisheit.« Rembrandt verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schnalzte genüsslich mit der Zunge. »Und mit diesen Freunden, von denen kein Mensch etwas weiß, habe ich ein kleines Geschäft abgeschlossen. Auf Gegenseitigkeit, wenn du verstehst, was ich meine. Um auf den Punkt zu kommen, heißt das, für jeden von uns beiden wird auf jeden Fall genug Knete übrig bleiben, um …«
»Kannst du mir vielleicht verraten, Holländer«, unterbrach ihn Jensen, zielte weiter auf den ehemaligen Kameraden und lachte verächtlich auf, »weshalb ich einer Kanalratte wie dir überhaupt trauen sollte? Da bist du sprachlos, was?«
»Schieß doch, und ich garantiere dir, dass du keine zehn Kilometer weit …«
»Darüber mach dir mal keine Gedanken!«, würgte Jensen seinen Gesprächspartner unbeirrt ab, während sich sein Zeigefinger um den Abzug der Pistole krümmte. »Ich weiß nämlich genau, was ich mit unserer Schatzkarte anfangen werde. Mit der vollständigen, versteht sich. Deine sogenannten Freunde brauche ich sicher nicht dazu.« Jensen pausierte, ein entspanntes Lächeln in dem von Schrammen, Beulen und Hautabschürfungen übersäten Gesicht. »Und am allerwenigsten dich.«
Dann drückte er ab.
22
Berlin-Kreuzberg, Polizeipräsidium in der Friesenstraße | 08.45 h
»Ist ja gut, Molli«, beschwichtigte Sydow seine tränenüberströmte Sekretärin, für die anscheinend gerade eine Welt zusammenbrach. »War nicht so gemeint.« Das hatte er nicht gewollt, obwohl er eine Stinkwut auf sie gehabt hatte. Der Artikel in der Morgenpost war das Letzte, was er zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebrauchen konnte, aber da das Kind nun mal in den Brunnen gefallen war, hätte er sich seinen Temperamentsausbruch ebenso gut sparen können.
Doch so leicht wie erhofft ließ sich die unverheiratete, reservierte und eher zugeknöpft wirkende Charlottenburgerin nicht beruhigen. »Was hätte ich denn tun sollen!«, schniefte sie und zückte ein Spitzentaschentuch aus Batist, auf dem ihre Initialen eingestickt waren. Eine Szene wie aus einem Courths-Mahler-Roman, und wenn Sydow ehrlich war, sah Annerose Mollig auch wie einer der dienstbaren Geister ihrer Lieblingsautorin aus. Gerade einmal 30, war ihr Haar stets streng gescheitelt, und die Kleidung, die sie trug, schien der aktuellen Mode bewusst zu trotzen. Gestärkte Bluse, Stehkragen und Perlenkette, den langen grauen Rock als obligatorische Zugabe. Eine Gouvernante wie aus dem Bilderbuch. »Herr Peters hat nach Ihnen gefragt, mir kurz gesagt, worum es geht, und circa fünf Minuten später hat Herr Vanselow von der Morgen…«
»Der schöne Theodor – ich hab’s geahnt!«, stöhnte Sydow und rollte mit den Augen. »Wie oft habe ich Ihnen eigentlich schon … Und was wollte er von Ihnen wissen?«
Die Sekretärin, deren fragiler Körperbau in krassem Widerspruch zu ihrem Familiennamen stand, schnäuzte laut und vernehmlich in ihr Taschentuch und ließ es nach diesem akustischen Crescendo wieder in ihrem dunkelgrauen Lederhandtäschchen verschwinden. »Was es denn so Neues gibt, hat er mich gefragt.«
Eine original Berliner Verwünschung auf den Lippen, konnte sich Sydow gerade noch bremsen. Nach dem gramzerfurchten Antlitz seiner Sekretärin zu schließen, die sich hinter ihre Schreibmaschine geflüchtet hatte, wäre das auch nicht unbedingt ratsam gewesen. »Eine ganze Menge, fürchte ich«, murmelte er stattdessen halblaut vor sich hin, gähnte und rieb die übernächtigten Augen. Er hatte die letzte Nacht kein Auge zugetan, und alles deutete darauf hin, dass sein Schlafdefizit weiter anwachsen würde. »Eine ganze Menge.«