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Nahlers Antwort kam prompt. »Weil ich nach Möglichkeit noch eine Weile am Leben bleiben will, Herr Kommissar. Ist das so schwer zu verstehen?«

Sydow tat so, als habe er die Entschiedenheit in Nahlers Stimme überhört. »Na, das wollen wir ja wohl alle, oder?«

»Mag sein, aber wenn ich schon abkratzen muss, dann bitte nicht, weil mir die Stasi eine Kugel durch die Birne gejagt hat.«

»Die Stasi?«, fragte Sydow, dem die Rolle als begriffsstutziger Kommissar überhaupt nicht behagte. Trotzdem war ihm jedes Mittel recht, um Nahler aus der Reserve zu locken. »Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Ganz einfach: Weil dieser Dreckskerl im Trenchcoat die halbe Portion mit ›Genosse‹ angesprochen hat.«

»Genosse, so, so.«

»Und mit ›Agent Laurin‹ – das kann ich beschwören.«

»Immer mit der Ruhe, Paule, ich glaub’s dir auch so«, beschwichtigte Sydow den Stadtstreicher, verschränkte die Hände im Nacken und reckte die müden Glieder. Um wieder auf Touren zu kommen, reichte Kaffee allein anscheinend nicht aus. »Egal, welche Überraschungen mir der Tag noch bescheren wird, dank deiner Hilfe bin ich einen Riesenschritt weiter.«

»Das freut mich, Herr Kommissar«, strahlte ein sichtlich erleichterter Paul Nahler mit stolzgeschwellter Brust. »Stets zu Diensten.«

»Wäre mir ein Vergnügen«, erwiderte Sydow, stand auf und reichte ihm die Hand. »Im Grunde hättest du eine Belohnung verdient.«

»Det lass mal meene Sorge sein, Schätzchen!«, entschied die Rote Lola prompt. »Zur Feier des Tages darf sich dat Paule erstmal auf Kosten des Hauses stärken, würde ick sagen.«

»Du als barmherzige Samariterin – öfter mal was Neues!«, gab Sydow zurück, schnappte sich ihren Zigarrenstummel und drückte ihn kurzerhand im Aschenbecher aus. »So leid es mir für dich tut, Paule, als Nächstes muss mein Assistent deine Aussage zu Protokoll nehmen, erst dann steht deinem Vergnügen eigentlich nichts mehr im …Verdammt noch mal, was soll denn die Klopferei? Herein, ich bin doch nicht taub!«

»Verzeihung, Herr … äh … Entschuldigung, Tom, wenn ich einfach so reinplatze«, stammelte Eduard Krokowski beim Betreten des Zimmers, sichtlich irritiert wegen des Zigarrenqualms, durch den sein Elan einen herben Dämpfer erlitt. »Aber es gibt gute Nachrichten.«

»Sekunde, Eduard«, bat Sydow und machte eine weit ausholende Bewegung mit der linken Hand. »Darf ich vorstellen – Erna Pommerenke und … Paule. Tu mir bitte den Gefallen und nimm die Aussage von Herrn Nahler zu Protokoll.« Ein Lächeln auf den Lippen, um das ihn jeder Japaner beneidet hätte, eskortierte er das ungleiche Paar daraufhin nach draußen auf den Korridor, bat um Geduld und kehrte in sein Büro zurück. »Dann mal raus mit der Sprache, Eduard«, forderte er seinen Assistenten auf, nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war. »Was gibt’s Neues?«

»Gerade eben hat das Krankenhaus angerufen, Tom«, antwortete Krokowski, dessen Jagdinstinkt einmal mehr nicht zu bremsen war. »Der Mann, der heute Morgen ange… äh … über den Haufen geschossen wurde, ist ab sofort vernehmungsfähig.«

»Na, wenn das mal keine gute Nachricht ist!«, frohlockte Sydow und verpasste Krokowski einen anerkennenden Klaps. »Sieht so aus, als käme die Sache langsam auf Touren.«

»Und was jetzt, Tom?«

»Als Erstes knöpfst du dir die beiden Turteltäubchen vor.« Um nicht unnötig Zeit zu vergeuden, fasste Sydow die neu gewonnenen Erkenntnisse kurz zusammen, zog sein Jackett an und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn nach neun, schon so spät. Auf einmal konnte es ihm nicht schnell genug gehen, und so riss er die Tür zum Vorzimmer auf und rief Krokowski, der immer noch mit dem Zigarrenqualm haderte, über die Schulter hinweg zu: »Punkt eins im Kranzler, verstanden, Gefreiter Krokowski?«

»Zu Befehl!«, schnarrte Krokowski, trotz Rauchschwaden offenbar ganz in seinem Element. »Herr Kriminalhauptkommissar können sich jederzeit auf mich verlassen.«

Dann öffnete er die Tür, trat auf den Korridor hinaus und machte sich an die Arbeit.

»Hier, Herr Kommissar – die gewünschte Adresse«, bereitete Sydows Sekretärin, die seinen Sinn für Humor nicht unbedingt teilte, dem Herumgealbere ein abruptes Ende. »Hans-Hinrich von Oertzen, wohnhaft in Berlin-Zehlendorf, Seestraße Nummer …«

»Sie sind ein Schatz, Molli«, lobte Sydow die freudestrahlende Vorzimmerdame, nahm den Zettel mit der Adresse in Empfang und warf ihr eine Kusshand zu.

Bevor sich eine bis in die Haarspitzen errötende Annerose Mollig gefasst hatte, war die Tür längst wieder ins Schloss gefallen.

*

Zu seinem Leidwesen gelang Sydows überstürzter Aufbruch nicht wie geplant. Im Treppenhaus lief ihm nämlich der Polizeipräsident über den Weg, genau der Mann, um den er in den vergangenen Tagen einen Riesenbogen gemacht hatte. Da dies allein aufgrund Platzmangels nicht möglich war, blieb ihm nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösem Spiel – sprich seiner bevorstehenden Beförderung – zu machen.

»Na, von Sydow – wohin so eilig?«, lautete die Begrüßung des wohlgenährten Polizeichefs, der ihn aus unerfindlichen Gründen ins Herz geschlossen hatte. »Mein Gott, wie sehen Sie denn aus!«

»Bei allem schuldigen Respekt, Herr Polizeipräsident: Sydow Komma Tom – ohne das ›von‹.«

Der leutselige Patriarch, der nicht nur wie Ludwig Erhard aussah, sondern zu allem Unglück auch noch ein fränkischer Landsmann des Bundeswirtschaftsministers war, ließ den Rüffel einfach über sich ergehen und sagte: »Ganz schöner Schlamassel da drüben, was?«

Sydow nickte, wenngleich ihm momentan ganz andere Dinge durch den Kopf gingen. So zum Beispiel die Herkunft eines gewissen Hans-Hinrich von Oertzen, mit dessen Vergangenheit er sich in Kürze näher befassen würde. Eine Vergangenheit, die ihre Schatten offenbar bis in die Gegenwart warf.

»Hören Sie mir überhaupt zu, Tom?«

»Aber selbstverständlich, Herr Polizeipräsident!«, schwindelte Sydow mit treuherziger Miene, was dazu führte, dass die Gnadensonne über seinem Haupt umso heller erstrahlte. »Sieht so aus, als würde es den Genossen in der Stalinallee demnächst an den Kragen gehen.«

»Meinen Sie wirklich?«

Sydow nickte, arbeitete sich behutsam bis zum Treppenabsatz vor und machte eine entschuldigende Geste. »Nichts für ungut, Herr Polizeipräsident«, heuchelte er mit zerknirschtem Gesichtsausdruck, da er weder Zeit noch Lust auf eine politische Diskussion hatte, »ich muss jetzt wirklich los.«

»Wenn wir gerade dabei sind, mein Junge –«, rief ihm der Polizeipräsident hinterher, als Sydow beinahe seinen Blicken entschwunden war, »seien Sie bitte so gut und kommen Sie morgen um zehn in mein Büro.«

»Aber gerne!«, antwortete Sydow, hob die Hand zum Gruß und hastete zum Hinterausgang. So sehr ihm das Wohlwollen schmeichelte, das ihm entgegengebracht wurde – im Moment hatte er ganz andere Sorgen. Und was seine Beförderung anging, würde ihm bei Gelegenheit bestimmt etwas einfallen. Allein der Gedanke an eine Tätigkeit im Innendienst reichte aus, um ihn auf der Stelle in Panik zu versetzen.

»So, mein Freund – und jetzt zu dir«, murmelte Sydow, als er die Tür zu seinem Aston Martin aufschloss, in Gedanken bereits bei dem bevorstehenden Besuch einer der vornehmsten Adressen in ganz Berlin. Dann ließ er den Motor an, stieß zurück und fuhr auf die Ausfahrt zu, um anschließend in Richtung Friesenstraße abzubiegen.

Doch dazu kam es nicht mehr. Nicht etwa, weil er einen Unfall gebaut, sondern weil er das, was er sah, zunächst für eine Halluzination gehalten hatte.