»Heil?«, wiederholte Rohde, als könne er es selbst nicht glauben. Und bohrte nach: »Sind Sie sich dessen auch ganz sicher?«
Der Kastellan nickte. »Spiegel, Paneele, Figuren, Mosaike – alles noch an Ort und Stelle. Verpackt in 24 Kisten.« Anschließend wurde er wieder ernst. »Nichts für ungut, Herr Direktor – aber manchmal denke ich, das Zimmer wäre besser in Russland geblieben.«
»Im Besitz der Bolschewisten? Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, entrüstete sich Rohde und strafte den Kastellan mit einem missbilligenden Blick. »Denken Sie nur an unsere Ausstellung. Halb Königsberg war damals auf den Beinen.« Der Direktor geriet ins Schwärmen. »Das achte Weltwunder, für immer in unserem Schloss. Zurückgekehrt nach Ostpreußen, von dessen Küste sein unvergleichlicher Werkstoff stammt. Seien wir ehrlich, mein Lieber: Kann es einen würdigeren Aufbewahrungsort für das Bernsteinzimmer geben?«
»Wenn Sie mich so fragen – ja.«
Rohde machte ein verdutztes Gesicht. »Merkwürdige Auffassung«, bemängelte er pikiert. »Und ausgesprochen unpatriotisch.«
»Unter uns, Herr Direktor –«, gab der Verwalter betont sachlich zurück, »sind Sie nicht auch der Meinung, dass es sich bei der Überführung des Bernsteinzimmers von Puschkin hierher nach Königsberg um einen besonders dreisten Fall von …«
»… Kunstraub gehandelt hat?«, vollendete Rohde und sah sein Gegenüber über den Rand seiner Brillengläser hinweg an. »Alles, was recht ist, Herr Schlossverwalter: An anderer Stelle würden Sie mit einer derartigen Einstellung ganz erhebliche Schwierigkeiten bekommen.«
»Na, und wenn schon!«, tat der Kastellan die Bemerkung Rohdes mit einem Achselzucken ab. »Der Krieg ist ja wohl verloren. Bitte nehmen Sie es mir nicht krumm, Herr Direktor, aber von dem Tag an, als wir uns mit dem Iwan angelegt haben, war unser Schicksal besiegelt.« Der Bewacher des Bernsteinzimmers dämpfte den Ton und sagte: »Manchmal denke ich, auf dem Zimmer liegt ein Fluch.«
»Ein Fluch? Jetzt übertreiben Sie aber, Friedrich.«
Der Kastellan ließ sich nicht beirren. »Oder wollen Sie etwa behaupten, es habe den Russen und uns Glück gebracht?«
Eine Spur nachdenklicher gestimmt, wechselte Rohde lieber das Thema. »Sei’s drum«, lenkte er rasch ein, ließ seinen Gesprächspartner einfach stehen und steuerte auf den Südflügel zu, »wir werden nicht umhinkommen, uns für die Zukunft etwas einfallen zu lassen.«
Der Verwalter, dem das Wort ›Zukunft‹ unter den obwaltenden Umständen wie blanker Hohn vorkam, machte kehrt und folgte Rohde auf dem Fuße. »Und wie meinen Sie das?«
»So, wie ich es sage.« Am Eingang zum Südflügel angelangt, warf Rohde einen Blick über die rechte Schulter und sah den Ostpreußen, der ihm von jeher nicht ganz geheuer gewesen war, wie einen begriffsstutzigen Pennäler an. Er wirkte entschlossen, keinesfalls bereit, vor den Wechselfällen des Schicksals zu kapitulieren. »Im Klartext: wir müssen unser Kleinod in Sicherheit bringen. Unverzüglich!«
6
Berlin-Kreuzberg, Yorckstraße | ›Bei Lola‹, 20.30 h
»Von wegen Beförderung!«, grummelte Tom Sydow, öffnete den Hemdkragen und spülte seine schlechte Laune mit einem Doppelten Marke Beefeater hinunter. »Kommt mir nicht in die Tüte.« Wie um sie noch zu steigern, spielte die Wurlitzerjukebox neben dem Tresen gerade die ersten Takte von ›Pack die Badehose ein‹. Sydow gab einen lauten Stoßseufzer von sich. Little Conny, auch das noch. Grund genug, sich gleich den nächsten Doppelten zu genehmigen.
Die dralle Blondine an seiner Seite, bei ihren Freiern unter dem Spitznamen Schampus-Lili bekannt, stellte ihr Glas ab und himmelte den 40-jährigen Beamten der Kripo Berlin wie einen Filmstar an. »Leitender Kriminalhauptkommissar«, gurrte sie mit unüberhörbarem Lispeln, eine Art Markenzeichen von ihr. »Und was soll daran so schlimm sein?«
Auf dem besten Weg, sich aus purer Verzweiflung eine ganze Flasche zu bestellen, ließ der hoch aufgeschossene Kripo-Beamte mit der rotblonden Mähne von seinem Vorhaben ab und hangelte eine Schachtel Lucky Strike aus seinem Jackett. Als Kavalier der alten Schule, die zuweilen die Oberhand in ihm gewann, bot er sie zuerst seiner Nachbarin an.
»Wenn du meinst, Lili.«
Die mit Stöckelschuhen, Netzstrümpfen und Häschenkostüm bekleidete Animierdame ließ sich nicht zweimal bitten. »Spendierst du mir noch einen Chardonnay, Tommy-Schatz?«, hauchte Kreuzbergs Antwort auf Marilyn Monroe, wobei ihr Lispeln bei der Erwähnung ihres Lieblingsgetränks besonders prononciert ausfiel. So deutlich, dass Sydow instinktiv sein Gin-Glas abschirmte. »Wo du doch bald einer von den Oberen Zehntausend sein wirst.«
»Noch ein Wort, Lili, und du kannst dir ’nen anderen Kavalier suchen«, drohte Sydow mit erhobenem Zeigefinger und steckte sich eine an. »Willst du das etwa riskieren?«
»Wo denkste hin, Süßer«, lenkte Schampus-Lili, mit bürgerlichem Namen Anneliese Petzold, lasziv kichernd ein und setzte ihren Schlafzimmerblick auf. »Glaubst du, ich bin so blöd, es mir mit dem attraktivsten Bullen von Berlin zu verderben?«
»Wenn schon, dann von ganz Deutschland, Lili«, flachste Sydow zurück, durch einen Blick in den Spiegel hinter dem Tresen eher vom Gegenteil überzeugt. Na ja, von attraktiv konnte in Bezug auf sein Konterfei momentan wirklich nicht die Rede sein. Dreitagebart, Augenschatten, zerknittertes Jackett und zu allem Überfluss noch die ersten grauen Strähnen im Haar. Wie der Polizeipräsident auf die Schnapsidee gekommen war, gerade ihn zum Leitenden der Mordinspektion I befördern zu wollen, würde für immer sein Geheimnis bleiben. Sydow schloss die blassblauen Augen und inhalierte tief. Der Job als Kripo-Beamter machte ihm Spaß, keine Frage. Und das nach mittlerweile fast 15 Jahren. Was ihm dagegen überhaupt keinen Spaß machte und ihn mitunter sogar beinahe in den Wahnsinn trieb, war der Papierkram, von dem er derzeit regelrecht überschwemmt wurde. Statistiken, Akten und Formulare. Allein der Gedanke an eine Zukunft im Innendienst trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Soll sich der Herr Polizeipräsident doch einen anderen Trottel vom Dienst suchen!, entschied Sydow und bedeutete dem Barkeeper, ihm einen Doppelten nachzuschenken. Auf einen Schreibtischjob konnte er getrost verzichten. Dafür waren andere bestimmt besser geeignet als er.
»Warum so nachdenklich, Tommy-Schatz?«
Ach ja, Lili, die hätte er beinahe vergessen. »Nur ein bisschen müde, weiter nichts«, hatte Sydow eine eher halbherzige Entschuldigung parat, nicht willens, sein Seelenleben zu offenbaren. »Jede Menge zu tun, weißt du.«
»In den besten Jahren, ein Bild von einem Mann und immer noch nicht unter der Haube!«, seufzte die Animierdame und sah Sydow kopfschüttelnd an. »Was für eine Verschwendung.«
»Findest du?«
Das Busenwunder im Häschenkostüm nickte resolut. »Ja, finde ich. Weißt du was, Sonnyboy? Ich denke, du solltest dir endlich mal ’ne Frau zulegen. Arbeit allein macht nämlich nicht glücklich.«
»Aber sie lenkt ab«, hielt Sydow dagegen, wohl wissend, dass Lili recht hatte. Seit dem Tod von Rebecca waren bereits acht Jahre vergangen, seit dem Techtelmechtel mit Gladys beinahe fünf Jahre, in denen er wie ein Besessener geackert, im Grunde jedoch immer mehr zum Einzelgänger verkommen war. Hätte es seine nunmehr bald 80-jährige Tante Lu nicht gegeben, unter deren fürsorglicher Fuchtel er sich befand, wäre es ihm vermutlich noch viel dreckiger gegangen. »Kann mich vor ihr zurzeit kaum noch retten.«
»Wem sagst du das!«, tat die Animierdame im Brustton der Überzeugung kund, zog an ihrer Fluppe und blies ihrem Nebenmann, dessen Knollennase in ihrem Ausschnitt zu versinken drohte, den Rauch ins Gesicht. »Besonders in den letzten paar Tagen.«
»Na, dann sieh mal zu, dass du keine Kreuzschmerzen …«, begann Sydow, dessen rabenschwarzer Humor, ein Erbteil seiner englischen Mutter, wieder einmal zum Vorschein kam. Ein Ausruf des Barkeepers erstickte seine Witzeleien im Keim.