Und ein Foto von uns beim Wandern in Colorado; Julia hatte die sechsjährige Nicole an der Hand, und ich trug Eric auf den Schultern, der Kragen meines Hemdes dunkel vor Schweiß -oder Schlimmerem, wenn ich den Tag recht in Erinnerung hatte. Eric musste um die zwei Jahre alt gewesen sein, er trug noch Windeln. Ich weiß noch gut, wie lustig er es immer fand, mir die Augen zuzuhalten, während ich ihn trug.
Das Wanderfoto war im Rahmen verrutscht und stand schief. Ich tippte gegen den Rahmen, um es wieder gerade zu richten, aber es rührte sich nicht. Ich sah, dass etliche von den anderen Bildern verblichen waren oder dass die Beschichtung am Glas klebte. Niemand hatte sich je um die Bilder gekümmert. Das Baby zog die Nase hoch und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Ich stellte die Fotos wieder aufs Regal. Es waren alte Bilder aus einer anderen, glücklicheren Zeit. Aus einem anderen Leben. Sie schienen nichts mit mir zu tun zu haben, nicht mehr. Alles war jetzt anders. Die Welt war jetzt anders.
Ich ließ den gedeckten Tisch, wie er war, ein stiller Vorwurf. Julia sah es, als sie gegen zehn nach Hause kam. »Tut mir Leid, Schatz.«
»Ich weiß, du hast viel um die Ohren«, sagte ich.
»Stimmt. Bitte verzeih mir, ja?«
»Ich verzeih dir«, sagte ich.
»Du bist der Beste.« Sie warf mir eine Kusshand zu, vom anderen Ende des Raumes. »Ich hüpf mal eben unter die Dusche«, sagte sie. Und sie ging den Flur entlang. Ich sah ihr nach.
Auf dem Weg zum Bad warf sie einen Blick in Amandas Zimmer und huschte dann hinein. Gleich darauf hörte ich sie beruhigende Laute von sich geben und das Baby glucksen. Ich stand von meinem Stuhl auf und ging ihr nach.
Im dunklen Kinderzimmer hielt sie Amanda hoch, rieb mit der Nase an ihrer.
Ich sagte: »Julia ... du hast sie wach gemacht.«
»Nein, hab ich nicht, sie war wach. Das warst du doch, mein kleines Kuschelhäschen? Du warst doch wach, nicht wahr, mein Knubbel-Bubbel?«
Das Baby rieb sich mit winzigen Fäusten die Augen und gähnte. Ich war sicher, dass sie aufgeweckt worden war.
Julia drehte sich im Dunkeln zu mir um. »Ich schwör's dir. Wirklich. Ich hab sie nicht wach gemacht. Wieso siehst du mich so an?«
»Wie seh ich dich denn an?«
»Das weißt du genau. Vorwurfsvoll.«
»Ich mach dir keinen Vorwurf.«
Das Baby fing an zu wimmern und dann an zu brüllen. Julia fühlte die Windel. »Ich glaube, sie hat sich nass gemacht«, sagte sie und reichte sie mir, während sie aus dem Zimmer ging. »Sie sind gefragt, Mr. Perfect.«
Jetzt war dicke Luft zwischen uns. Nachdem ich dem Baby die Windel gewechselt und es wieder ins Bett gelegt hatte, hörte ich, wie Julia aus der Dusche kam und eine Tür zuknallte. Immer wenn Julia Türen knallen ließ, war das für mich das Zeichen, dass ich zu ihr kommen und sie besänftigen sollte. Aber heute Abend war mir nicht danach. Es ärgerte mich, dass sie das Baby aufgeweckt hatte, und ich ärgerte mich über ihre Unzuverlässigkeit, erst sagte sie, sie werde zum Abendessen zu Hause sein, und dann gab sie nicht mal frühzeitig Bescheid, dass es doch später werden würde. Ich hatte Angst, dass sie deshalb so unzuverlässig geworden war, weil sie durch eine neue Liebe abgelenkt wurde. Oder machte sie sich einfach nicht mehr viel aus ihrer Familie? Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich hatte jetzt keine Lust, mich mit ihr zu vertragen.
Ich ließ sie einfach weiter die Türen knallen. Sie schlug die Schiebetür ihres Wandschrankes so fest zu, dass das Holz krachte. Sie fluchte. Auch das war ein Zeichen: Ich sollte zu ihr gelaufen kommen.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer und setzte mich. Ich nahm das Buch, in dem ich las, und starrte auf die Seite. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber es gelang mir natürlich nicht. Ich war wütend, und ich lauschte, wie sie im Schlafzimmer herumpolterte. Wenn sie so weitermachte, würde sie Eric wecken, und dann würde ich ein ernstes Wörtchen mit ihr reden müssen. Ich hoffte, dass es nicht so weit kam.
Schließlich hörte der Lärm auf. Wahrscheinlich hatte sie sich ins Bett gelegt. Falls ja, würde sie bald einschlafen. Julia konnte auch schlafen, wenn wir uns gestritten hatten. Ich konnte das noch nie; ich blieb also auf, lief wütend auf und ab und versuchte, mich zu beruhigen.
Als ich dann doch ins Bett ging, schlief Julia tief und fest. Ich schlüpfte unter die Decke und rollte mich von ihr weg.
Es war ein Uhr morgens, als das Baby anfing zu schreien. Ich suchte nach dem Lichtschalter, stieß den Wecker um, wodurch das Radio anging, und Rock 'n' Roll plärrte los. Ich fluchte, tastete im Dunkeln herum, bis ich endlich die Nachttischlampe anhatte und das Radio ausmachen konnte.
Das Baby schrie noch immer.
»Was hat sie denn?«, fragte Julia schläfrig.
»Ich weiß nicht.« Ich stieg aus dem Bett, schüttelte den Kopf, versuchte, wach zu werden. Ich ging ins Kinderzimmer und schaltete das Licht an. Der Raum kam mir sehr hell vor, die Clowntapete knallgelb. Unwillkürlich dachte ich: Was hat sie gegen gelbe Tischsets, wo sie doch das ganze Kinderzimmer gelb gestrichen hat?
Die Kleine stand in ihrem Bettchen, hielt sich an den Stäben fest, brüllte mit weit offenem Mund und rang keuchend nach Luft. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich breitete die Arme aus, und sie griff nach mir, und ich tröstete sie. Ich dachte, sie müsse einen Albtraum gehabt haben. Ich wiegte sie sanft, um sie zu beruhigen.
Sie schrie unvermindert weiter. Vielleicht tat ihr irgendetwas weh, vielleicht war was in der Windel. Ich untersuchte ihren Körper. Und da sah ich, dass sie am Bauch einen bösen Ausschlag hatte, der sich wie Striemen zum Rücken und bis hinauf zum Hals erstreckte.
Julia kam herein. »Kannst du nicht dafür sorgen, dass sie aufhört?«, sagte sie.
Ich sagte: »Irgendwas stimmt nicht mit ihr«, und ich zeigte Julia den Hautausschlag.
»Hat sie Fieber?«
Ich fühlte Amanda den Kopf. Sie war verschwitzt und heiß, aber das konnte auch vom Weinen kommen. Am übrigen Körper fühlte sie sich kühl an. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«
Jetzt sah ich den Ausschlag auch an ihren Oberschenkeln. War der vorhin schon da gewesen? Mir war fast, als würde er sich vor meinen Augen ausbreiten. Wenn das überhaupt noch möglich war, brüllte das Baby jetzt noch lauter.
»Mein Gott«, sagte Julia. »Ich ruf den Arzt an.«
»Ja, mach das.« Inzwischen hatte ich Amanda auf den Rük-ken gelegt - sie schrie noch mehr -, und ich sah mir ihren ganzen Körper genau an. Der Ausschlag breitete sich aus, kein Zweifel. Und sie hatte offenbar fürchterliche Schmerzen und brüllte sich die Lunge aus dem Leib.
»Mein armes Schätzchen, mein armes, armes Schätzchen ...«, sagte ich.
Die Rötung breitete sich eindeutig aus.
Julia kam zurück und sagte, dass sie dem Arzt eine Nachricht hinterlassen habe. Ich sagte: »Ich warte nicht. Ich bring sie ins Krankenhaus.«
»Meinst du wirklich, das ist notwendig?«, fragte sie.
Ich antwortete nicht, ich ging einfach ins Schlafzimmer, um mir etwas anzuziehen.
Julia fragte: »Soll ich mitkommen?«
»Nein, bleib bei den Kindern«, sagte ich.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Na schön«, sagte sie. Sie ging zurück ins Schlafzimmer. Ich nahm meine Autoschlüssel.
Das Baby schrie weiter.
»Ich weiß, es ist unangenehm«, sagte der Assistenzarzt. »Aber ich halte es nicht für ungefährlich, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben.« Wir waren in einem durch einen Vorhang abgetrennten Raum in der Notaufnahme. Der Arzt beugte sich über meine schreiende Tochter und schaute ihr mit einem Instrument in die Ohren. Inzwischen war Amanda am ganzen Körper krebsrot. Sie sah aus, als wäre sie gekocht worden.
Ich hatte Angst. Ich hatte noch nie davon gehört, dass ein Baby leuchtend rot wurde und schrie wie am Spieß. Ich traute dem Arzt nicht, der mir viel zu jung erschien, um kompetent zu sein. Er konnte noch keine Erfahrung haben; er sah nicht einmal so aus, als müsse er sich schon rasieren. Ich war furchtbar nervös, trat von einem Fuß auf den anderen. Allmählich spürte ich, wie ich leicht wahnsinnig wurde, weil meine Tochter seit einer Stunde ununterbrochen brüllte. Es zerrte an meinen Nerven. Der Arzt achtete gar nicht darauf. Ich fragte mich, wie er das anstellte.