»Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden fünfzig bis hundert Jahren eine neue Kategorie von Organismen entstehen wird. Diese Organismen werden insofern künstlich sein, als sie ursprünglich von Menschen entworfen wurden. Sie werden sich jedoch vermehren und ihre ursprüngliche Form >evolutionär< verändern; sie werden entsprechend jeder vernünftigen Definition des Wortes >lebendig< sein [...]. Das Tempo des evolutionären Wandels wird extrem hoch sein [...]. Die Auswirkungen für die Menschheit und die Biosphäre könnten ungeheuer sein, größer als die der industriellen Revolution, der Atomwaffen oder der Umweltverschmutzung. Wir müssen jetzt Maßnahmen ergreifen, um die Entstehung künstlicher Organismen zu steuern.«[5]
Auch der größte Verfechter der Nanotechnologie, K. Eric Drexler, äußerte sich ähnlich besorgt:
»Viele Menschen, mich eingeschlossen, haben ein ungutes Gefühl, wenn sie an die Folgen dieser Technologie für die Zukunft denken. Das Ausmaß der möglichen Veränderungen ist gewaltig, und es besteht die große Gefahr, dass die Gesellschaft ohne ausreichende Vorbereitung nur sehr schlecht damit umgehen wird.«[6]
Selbst gemäß den optimistischsten (oder unheilvollsten) Prognosen wird es solche Organismen erst in Jahrzehnten geben. Wir können nur hoffen, dass wir bis dahin auf internationaler Ebene Kontrollinstanzen für sich selbst reproduzierende Technologien eingesetzt haben. Entscheidend ist, dass die Gesetzesübertritte streng geahndet werden. Wer Computerviren erzeugt, wird schon heute mit einer Härte strafrechtlich verfolgt, wie es noch vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen wäre, und Hacker landen hinter Schloss und Riegel. Auf Abwege geratene Biotechnologen werden ihnen bald Gesellschaft leisten.
Aber natürlich ist nicht auszuschließen, dass wir die Einrichtung solcher Kontrollen versäumen. Oder dass jemand sehr viel früher als erwartet künstliche, sich selbst reproduzierende Organismen erzeugt. Tritt das ein, wären die Folgen unabsehbar. Und davon handelt der vorliegende Roman.
Michael Crichton Los Angeles 2002
Es ist jetzt Mitternacht. Das Haus ist dunkel. Ich weiß nicht, wie die Sache ausgehen wird. Den Kindern ist fürchterlich schlecht, sie übergeben sich. Ich höre, wie mein Sohn und meine Tochter in verschiedenen Badezimmern würgen. Vor einigen Minuten war ich bei ihnen, um zu sehen, was da hochkommt. Mir macht die Kleinste Sorgen, aber auch ihr musste ich das zumuten. Es war ihre einzige Chance.
Ich glaube, mit mir ist alles in Ordnung, zumindest im Augenblick. Aber die Aussichten sind natürlich nicht gut: Die meisten, die mit dieser Geschichte zu tun hatten, sind bereits tot. Und es gibt so vieles, was ich nicht weiß.
Die Fabrik ist zerstört, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir es rechtzeitig geschafft haben.
Mae ist heute Nachmittag zu dem Labor in Palo Alto gefahren. Ich hoffe, es ist ihr gelungen, denen dort begreiflich zu machen, wie bedrohlich die Lage ist. Ich habe gedacht, das Labor würde sich melden, aber bislang habe ich noch kein Wort von ihnen gehört.
Ich habe ein Klingeln in den Ohren, das ist ein schlechtes Zeichen. Und in Brust und Unterleib spüre ich ein Vibrieren. Die Kleine spuckt eigentlich nur, übergibt sich nicht richtig. Mir ist schwindelig. Ich hoffe, ich verliere das Bewusstsein nicht. Die Kinder brauchen mich, vor allem die Kleine. Sie haben Angst. Verständlicherweise.
Auch ich habe Angst.
Wie ich hier so im Dunkeln sitze, kann ich kaum glauben, dass noch vor einer Woche mein größtes Problem darin bestand, einen neuen Job zu finden. Jetzt kommt mir das fast lachhaft vor.
Aber andererseits entwickeln sich die Dinge ja nie so, wie man denkt.
I.
ZU HAUSE
1. Tag, 10.04 Uhr
Die Dinge entwickeln sich nie so, wie man denkt.
Ich hatte nie vor, Hausmann zu werden. Ein Ehemann, der zu Hause bleibt. Ein Vollzeitvater, wie immer man es auch nennen will - die Begriffe taugen alle nicht richtig. Aber genau das war ich seit sechs Monaten. Jetzt war ich bei Crate and Barrel im Zentrum von San Jose, um ein paar Gläser nachzukaufen, und bei der Gelegenheit sah ich, dass sie auch eine gute Auswahl an Tischsets hatten. Wir brauchten noch ein paar Sets; die geflochtenen, ovalen, die Julia vor einem Jahr gekauft hatte, waren ziemlich hinüber und mit Babynahrung verkrustet. Weil sie geflochten waren, konnte man sie nicht waschen, und das war das Problem. Also blieb ich vor der Auslage stehen und schaute, ob sie gute Sets im Angebot hatten, ich fand ein paar blassblaue, die ganz hübsch waren, und nahm noch ein paar weiße Servietten. Und dann fiel mein Blick auf gelbe Sets, denn sie leuchteten richtig und waren schön, also nahm ich die auch noch. Es waren keine sechs Stück mehr im Regal, und ich dachte, sechs wären besser für uns, also bat ich die Verkäuferin nachzusehen, ob sie noch welche im Lager hatten. Während sie weg war, legte ich ein Platzdeckchen auf den Tisch, stellte einen weißen Teller darauf und legte eine gelbe Serviette daneben. Das Arrangement sah ausgesprochen fröhlich aus, und ich überlegte gerade, ob ich vielleicht acht statt sechs nehmen sollte, als mein Handy klingelte.
Es war Julia. »Hi, Schatz.«
»Hi, Julia. Wie läuft's?«, sagte ich. Im Hintergrund hörte ich eine Maschine, ein gleichmäßiges Stampfen. Wahrscheinlich die Vakuumpumpe für das Elektronenmikroskop. In ihrem Labor gab es mehrere Rasterelektronenmikroskope.
Sie sagte: »Was machst du gerade?« »Ich kaufe Tischsets.«
»Wo?«
»Crate and Barrel.«
Sie lachte. »Bist du der einzige Mann da?«
»Nein ...«
»Na dann ist ja gut«, sagte sie. Ich spürte, dass Julia sich nicht die Bohne für unser Gespräch interessierte. Sie war mit ihren Gedanken woanders. »Hör mal, weshalb ich anrufe, Jack, es tut mir furchtbar Leid, aber es wird heute Abend wieder spät.«
»Aha . « Die Verkäuferin kam zurück und brachte weitere gelbe Sets. Mit dem Handy am Ohr winkte ich sie zu mir. Ich hielt drei Finger hoch, und sie legte drei Sets hin. Zu Julia sagte ich: »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, hier geht's bloß mal wieder drunter und drüber, wie üblich. Wir senden heute per Satellit ein Demo an unsere Investoren in Asien und Europa, und wir haben Probleme mit der Satellitenschaltung hier, weil der Ü-Wagen, den sie geschickt haben - ach, ich will dich nicht langweilen ... jedenfalls, wir werden zwei Stunden länger brauchen, Schatz. Vielleicht noch mehr. Vor acht bin ich ganz bestimmt nicht zu Hause. Kannst du den Kindern was zu essen machen und sie ins Bett bringen?«
»Kein Problem«, sagte ich. Und das war es auch nicht. Ich war daran gewöhnt. In letzter Zeit machte Julia ständig Überstunden. Meistens kam sie erst nach Hause, wenn die Kinder schon schliefen. Xymos Technologies, die Firma, bei der sie arbeitete, versuchte bei den Geldgebern erneut Kapital lockerzumachen - zwanzig Millionen Dollar -, und der Druck war enorm. Zumal Xymos sein Geld damit verdiente, Technologien für die »molekulare Produktion« zu entwickeln, wie die Firma es nannte, was jedoch die meisten Leute als Nanotechnologie bezeichneten. Nano erfreute sich heutzutage bei Investoren keiner großen Beliebtheit. Zu viele Geldgeber waren in den vergangenen zehn Jahren enttäuscht worden, denn Produkte, die angeblich zum Greifen nahe waren, kamen nie aus den Labors heraus. Investoren betrachteten die Nanotechnologie inzwischen als leere Versprechung, die Produkte verhieß, aber nicht lieferte.
Aber das war Julia nicht neu; sie hatte selbst für zwei Investorenfirmen gearbeitet. Nach ihrer Ausbildung als Kinderpsychologin war sie Spezialistin für »Technologie-Inkubation« geworden und half Technologie-Unternehmen, die noch in den Kinderschuhen steckten, auf die Sprünge. (Sie witzelte gern, dass sie im Grunde noch immer Kinderpsychologie betrieb.) Nach einiger Zeit gab sie den Job als Unternehmensberaterin auf und ließ sich von einer der betreuten Firmen einstellen. Inzwischen saß sie bei Xymos im Management.
5
Farmer, J. Doyne, und Alletta d'A. Belin: »Artificial Life: The Corning Evolution«, in: Langton, C. G., C. Taylor, J. D. Farmer und S. Rasmussen (Hrsg.):
6
Drexler, K. Eric: »Introduction to Nanotechnology«, in: Krummenacker, Markus, und James Lewis (Hrsg.):