»Ja«, sagte ich, »das hat man mir gestern Abend schon gesagt. Gibt es ein Problem?«
»Allerdings. Ihre Frau lehnt jede weitere Untersuchung ab.«
»Im Ernst?«
»Gestern Abend durften wir Röntgenaufnahmen machen und das gebrochene Handgelenk richten. Wir haben ihr erklärt, dass die Röntgenaufnahmen uns nur begrenzt Aufschluss über ihren Zustand geben können und dass wir unbedingt eine Kernspin-tomografie machen müssen, aber sie weigert sich.«
Ich sagte: »Warum?«
»Sie sagt, das sei nicht erforderlich.«
»Natürlich ist es erforderlich«, erwiderte ich.
»Ja, absolut, Mr. Forman«, sagte Rana. »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber bei einer Beckenfraktur besteht die Gefahr starker Blutungen im Unterleib, sodass letztlich sogar, na ja, Verbluten droht. Das kann sehr schnell gehen und ...«
»Was soll ich tun?«
»Wir möchten, dass Sie mit ihr reden.«
»Selbstverständlich. Verbinden Sie mich mit ihr.«
»Leider wird sie im Augenblick wieder geröntgt. Können wir Sie telefonisch erreichen? Übers Handy? Alles klar. Noch was, Mr. Forman, wir konnten mit Ihrer Frau keine psychiatrische Anamnese machen .«
»Wieso nicht?«
»Sie weigert sich, darüber zu sprechen. Ich meine Drogen, irgendwelche Verhaltensstörungen in der Vergangenheit und dergleichen. Können Sie uns vielleicht ein wenig Aufschluss darüber geben?«
»Ich kann's versuchen ...«
»Ich will Sie nicht beunruhigen, aber Ihre Frau hat sich, na ja, ein wenig seltsam verhalten, irrational. Mitunter fast wie im Wahn.«
»Sie hatte in letzter Zeit viel Stress«, sagte ich.
»Ja, das trägt sicherlich mit dazu bei«, sagte Dr. Rana beschwichtigend. »Und sie hat eine schwere Kopfverletzung, die wir näher untersuchen müssen. Ich will Sie nicht beunruhigen, aber offen gesagt, meine Kollegin von der Psychiatrie ist zu der Ansicht gelangt, dass Ihre Frau manisch-depressiv ist oder an einer drogenbedingten Störung leidet oder an beidem.«
»Verstehe .«
»Und bei einem Verkehrsunfall ohne fremdes Einwirken drängen sich solche Fragen natürlich auf .«
Damit meinte er, dass der Unfall ein Selbstmordversuch gewesen sein könnte. Ich hielt das für unwahrscheinlich. »Mir ist nicht bekannt, dass meine Frau Drogen nimmt«, sagte ich. »Aber ich bin auch, ähm, seit ein paar Wochen besorgt wegen ihres Verhaltens.«
Ricky kam zu mir und stellte sich ungeduldig neben mich. Ich legte eine Hand auf die Sprechmuschel. »Es geht um Julia.« Er nickte und sah auf seine Uhr. Zog die Augenbrauen hoch. Ich fand es ziemlich seltsam, dass er mich drängte, obwohl ich doch mit dem Krankenhaus über meine Frau sprach - seine unmittelbare Vorgesetzte.
Der Arzt schwafelte noch eine Weile, und ich beantwortete seine Fragen, so gut ich konnte, aber im Grunde konnte ich ihm nicht weiterhelfen. Er sagte, er werde Julia ausrichten, dass sie mich anrufen solle, sobald sie zurück sei, und ich sagte, ich würde auf ihren Anruf warten. Ich klappte das Handy zu.
Ricky sagte: »Okay, los geht's. Tut mir Leid, dass ich so dränge, Jack, aber ... ich muss dir nun mal allerhand zeigen.«
»Gibt es ein Zeitproblem?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
Ich wollte nachfragen, was er damit meinte, doch er ging bereits voraus, mit schnellem Schritt. Wir verließen den Wohnbereich durch eine weitere Glastür und gingen dann noch einen Korridor hinunter.
Dieser Gang, so fiel mir auf, war hermetisch abgedichtet. Wir schritten über einen gläsernen Laufsteg, der über dem Boden schwebte. Das Glas hatte kleine Löcher, und darunter befand sich eine Reihe von Vakuumleitungen zum Absaugen. Langsam gewöhnte ich mich an das ständige Zischen des Gebläses.
In der Mitte des Korridors waren wieder zwei Glastüren. Wir mussten einzeln durch sie hindurchgehen. Sie teilten sich, als wir sie durchschritten, und schlossen sich hinter uns. Als wir unseren Weg fortsetzten, hatte ich erneut das starke Gefühl, in einem Gefängnis zu sein, ein Gittertor folgte dem nächsten, es ging immer tiefer in etwas hinein.
Um mich herum war zwar alles Hightech und glänzende Glaswände - aber es war trotzdem ein Gefängnis.
6. Tag, 8.12 Uhr
Wir gelangten in einen großen Raum mit der Aufschrift »technik« und darunter stand »MolMat/FabMat/NährMat«. Wände und Decke waren mit dem üblichen glatten Plastik bedeckt. Große beschichtete Container stapelten sich auf dem Boden. Rechts sah ich eine Reihe wuchtiger Stahlkessel, die in den Boden eingelassen und von einem wahren Labyrinth aus Rohren und Ventilen umgeben waren, die wiederum hochragten. Es sah aus wie eine Mikrobrauerei, und ich wollte Ricky schon danach fragen, als er sagte: »Also hier seid ihr. Ich hab euch schon gesucht.«
An einem Klemmkasten unter einem Monitorbildschirm sah ich drei weitere Leute aus meinem damaligen Team. Sie blickten ein wenig schuldbewusst, als wir näher kamen, wie Kinder, die beim Kekseklauen erwischt wurden. Natürlich war Bobby Lembeck ihr Anführer. Mit fünfunddreißig überwachte Bobby mittlerweile mehr Codes, als er schrieb, aber er konnte sie nach wie vor schreiben, wenn er wollte. Wie immer trug er eine verwaschene Jeans und ein Ghost-in-the-Shell-T-Shirt, und seinen allgegenwärtigen Walkman hatte er am Hosenbund festgemacht.
Dann war da Mae Chang, wunderschön und zart, ein Gegensatz zu Rosie Castro, wie er stärker nicht sein könnte. Mae hatte als Biologin in Sichuan Feldstudien über Stumpfnasenaffen betrieben, ehe sie sich mit Mitte zwanzig dem Programmieren zuwandte. Durch ihre Forschungen in der Natur und aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung schien sie fast geräuschlos. Mae sagte nur sehr wenig, bewegte sich kaum hörbar und hob nie die Stimme - allerdings verlor sie auch niemals ein Streitgespräch. Wie viele Feldbiologen hatte sie die unheimliche Fähigkeit entwickelt, mit ihrer Umwelt zu ver-schmelzen, unauffällig, fast unsichtbar zu werden.
Und schließlich Charley Davenport, mürrisch, zerknautscht und schon mit dreißig übergewichtig. Er war langsam und schwerfällig und sah aus, als hätte er in seinen Klamotten geschlafen, was er tatsächlich nach Marathonprogrammiersitzungen häufig tat. Charley hatte unter John Holland in Chicago gearbeitet und unter Doyne Farmer in Los Alamos. Er war Experte für genetische Algorithmen, für Programme, die die natürliche Selektion simulierten, um Antworten zu präzisieren. Doch er war eine Nervensäge - er summte, schnaufte, er redete mit sich selbst und furzte mit hemmungsloser Lautstärke. Die Gruppe ertrug ihn nur, weil er so talentiert war.
»Sind dafür wirklich drei Leute nötig?«, fragte Ricky, nachdem ich allen die Hand gegeben hatte.
»Ja«, sagte Bobby, »dafür sind drei Leute nötig, El Rooto, weil es kompliziert ist.«
»Wieso? Und nenn mich nicht El Rooto.«
»Zu Befehl, Mr. Root.«
»Nun red schon .«
»Also«, sagte Bobby, »nach der Episode heute Morgen hab ich als Erstes die Sensoren überprüft, und mir scheint, dass sie falsch kalibriert sind. Da aber keiner nach draußen geht, ist die Frage, ob wir sie falsch ablesen oder ob die Sensoren selbst defekt sind oder ob die Anzeige hier an der Anlage falsch ist. Mae kennt die Sensoren, sie hat sie in China benutzt. Ich nehme gerade eine Code-Überprüfung vor. Und Charley ist hier, weil er nicht gehen und uns in Ruhe lassen will.«
»Mann, ich hab weiß Gott was Besseres zu tun«, sagte Char-ley. »Aber ich hab den Algorithmus geschrieben, der die Sensoren steuert, und wir müssen den Sensorcode optimieren, sobald die beiden fertig sind. Ich warte nur, bis sie aufhören herumzufummeln. Dann optimiere ich.« Er blickte Bobby scharf an. »Keiner von den beiden hat auch nur einen Schimmer vom Optimieren.«