In gewisser Weise war das Ganze ungemein spannend; zum ersten Mal konnte ein Programm Ergebnisse erzielen, die der Programmierer absolut nicht vorhersagen konnte. Die Programme verhielten sich eher wie lebende Organismen denn wie von Menschen geschaffene Roboter. Das fanden Programmierer aufregend - aber es frustrierte sie auch.
Das emergente Verhalten des Programms war nämlich regellos. Manchmal bekämpften sich konkurrierende Agenten so heftig, dass gar nichts mehr lief und das Programm nichts zu Stande brachte. Manchmal beeinflussten sich Agenten gegenseitig so stark, dass sie ihr Ziel aus den Augen verloren und stattdessen irgendetwas anderes taten. In dieser Hinsicht war das Programm ausgesprochen kindlich - unberechenbar und leicht abzulenken. Wie es einmal ein Programmierer ausdrückte: »Verteilte Intelligenz zu entwickeln ist genauso, als würde man einem fünfjährigen Kind sagen, es soll in sein Zimmer gehen und sich umziehen. Es kann sein, dass das Kind sich tatsächlich umzieht, es kann aber genauso gut sein, dass es etwas anderes macht und nicht wiederkommt.«
Weil diese Programme sich lebensecht verhielten, fingen Programmierer an, Parallelen zum Verhalten realer Organismen in der realen Welt zu ziehen. Sie bildeten sogar das Verhalten von tatsächlichen Organismen nach, um so eine gewisse Kontrolle über die Resultate zu erlangen.
So kam es, dass Programmierer auf einmal Ameisenkolonien und Termitenhügel und den Bienentanz studierten, um Programme für die Steuerung von Flugzeuglandeplänen oder die Paketbeförderung oder das Übersetzen von Sprachen zu schreiben. Diese Programme funktionierten oft wunderbar, aber sie konnten sich dennoch verrennen, vor allem, wenn sich die Umstände drastisch veränderten. Dann verloren sie ihre Ziele.
Aus diesem Grund begann ich vor fünf Jahren mit der Simulation von Räuber-Beute-Beziehungen, um Ziele zu fixieren. Hungrige Räuber ließen sich nämlich nicht ablenken. Es konnte sein, dass sie durch die Umstände gezwungen wurden, ihre Methoden abzuwandeln, und dass bis zum Erfolg viele Versuche erforderlich waren - aber sie verloren ihr Ziel nicht aus den Augen.
So wurde ich Experte für Räuber-Beute-Beziehungen. Ich kannte mich aus mit Rudeln von Hyänen, afrikanischen Jagdhunden, sich anpirschenden Löwinnen und angreifenden Kolonnen von Wanderameisen. Mein Team hatte die Fachliteratur der Feldbiologie gelesen, wir hatten die Erkenntnisse verallgemeinert und in ein Programm-Modul namens predprey eingebaut, das Agentensysteme steuern und deren Verhalten auf ein Ziel lenken konnte. Es konnte das Programm dazu bringen, ein Ziel zu suchen.
Als ich jetzt auf Rickys Bildschirm sah, wie die koordinierten Einheiten sich fließend bewegten, während sie durch die Luft kreisten, sagte ich: »Ihr habt predprey eingesetzt, um eure individuellen Einheiten zu programmieren?«
»Genau. Wir haben diese Regeln verwendet.«
»Tja, das Verhalten macht auf mich einen ganz guten Eindruck«, sagte ich mit Blick auf den Bildschirm. »Wieso gibt es ein Problem?«
»Wir wissen es nicht genau.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, wir wissen, dass es ein Problem gibt, aber wir wissen nicht genau, was die Ursache dafür ist. Ob es ein Programmproblem ist - oder was anderes.«
»Was anderes? Was denn zum Beispiel?« Ich runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht ganz folgen, Ricky. Das da ist bloß ein Schwarm Nanoroboter. Die machen doch genau das, was ihr wollt. Wenn die Programmierung nicht stimmt, dann ändert ihr sie eben. Oder verstehe ich da was nicht?«
Ricky sah mich bedrückt an. Er schob seinen Stuhl vom Schreibtisch weg und stand auf. »Ich zeig dir, wie wir die Agenten herstellen«, sagte er. »Dann verstehst du die Situation besser.«
Da ich Julias Präsentation auf Band gesehen hatte, war ich ungemein neugierig auf das, was er mir als Nächstes zeigen würde. Viele Leute, die ich sehr ernst nahm, hielten nämlich molekulare Herstellung für unmöglich. Einer der stärksten theoretischen Einwände war die Zeit, die es dauern würde, ein funktionierendes Molekül zu bauen. Damit es überhaupt möglich war, musste das Fließband, das die Nanoteilchen herstellte, bedeutend effizienter sein als alles, was die mensch-liche Produktion bisher gekannt hatte. Im Grunde liefen alle vom Menschen geschaffenen Fließbänder in etwa mit der gleichen Geschwindigkeit: Sie konnten ein Teil pro Sekunde hinzufügen. Ein Auto zum Beispiel bestand aus ein paar Tausend Teilen. Und man konnte ein Auto in wenigen Stunden zusammenbauen. Ein Passagierflugzeug hatte sechs Millionen Teile, und es dauerte mehrere Monate, bis es fertig war. Doch ein hergestelltes Molekül bestand im Durchschnitt aus 1025 Teilen. Das waren 10 000 000 000 000 000 000 000 000 Teile. Eine unvorstellbar große Zahl. Das menschliche Gehirn konnte sie nicht erfassen. Berechnungen hatten jedoch ergeben, dass es, selbst wenn man pro Sekunde eine Million Teile zusammenbauen könnte, immer noch dreitausend Billionen Jahre dauern würde - länger als das bekannte Alter des Universums -, um ein einziges Molekül fertig zu stellen. Und das war ein Problem. Es war bekannt als das Bau-Zeit-Problem.
Ich sagte zu Ricky: »Wenn ihr industriell produziert ...«
»Tun wir.«
»Dann müsst ihr das Bau-Zeit-Problem gelöst haben.«
»Haben wir.«
»Wie?«
»Wart's ab.«
Die meisten Wissenschaftler sahen die Lösung des Problems darin, mit größeren Untereinheiten zu bauen, also mit Molekularfragmenten, die aus Milliarden Atomen bestanden. Dadurch würde sich die Montagezeit auf zwei Jahre reduzieren. Dann, mit teilweiser Selbstmontage, könnte man die erforderliche Zeit auf einige Stunden runterdrücken, vielleicht sogar auf nur eine Stunde. Doch selbst mit weiteren Verbesserungen blieb es eine große theoretische Herausforderung, Produkte in großen Mengen zu erzeugen. Das Ziel bestand nämlich nicht darin, ein einziges Molekül in einer Stunde zu produzieren. Das Ziel bestand darin, mehrere Pfund Moleküle in einer Stunde herzustellen.
Niemand hatte bisher einen Weg gefunden, das möglich zu machen.
Wir kamen an einigen Labors vorbei, darunter eins, das aussah wie ein herkömmliches Mikrobiologielabor. Ich sah Mae darin herumwerkeln. Ich fragte Ricky, warum er hier ein mikrobiologisches Labor habe, doch er ging nicht auf meine Frage ein. Er war jetzt ungeduldig, in Eile. Ich sah, wie er verstohlen auf seine Uhr schaute. Direkt vor uns war eine letzte gläserne Luftschleuse. Auf der Glastür stand: »mikroproduktion«. Ricky winkte mich hinein. »Immer nur einzeln«, sagte er. »Mehr lässt das System nicht zu.«
Ich ging hinein. Die Türen schlossen sich zischend hinter mir, die Druckkissen rasteten ein. Wieder kam Wind: von unten, von den Seiten, von oben. Aber inzwischen war ich daran gewöhnt. Die zweite Tür öffnete sich, und ich ging wieder einen kurzen Korridor hinunter, der in einen großen Raum dahinter führte. Ich sah strahlend helles, weißes Licht -so hell, dass mir die Augen wehtaten.
Ricky kam mir nach, redete, während wir weitergingen, aber ich weiß nicht mehr, was er sagte. Ich konnte mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Ich starrte bloß. Denn jetzt war ich in der Hauptmontagehalle - ein gewaltiger, fensterloser Raum, wie ein riesiger, drei Stockwerke hoher Hangar. Und in diesem Hangar befand sich ein ungeheuer komplexes Gebilde, das in der Luft zu hängen schien und wie ein Edelstein funkelte.
6. Tag, 9.12 Uhr
Zuerst begriff ich gar nicht, was ich da vor mir hatte - es sah aus wie ein riesiger, glühender Krake, der sich über mir erhob, mit glitzernden, geschliffenen Armen, die sich in alle Richtungen ausstreckten und vielfältige Spiegelungen und Farbbänder auf die Wände warfen. Doch dieser Krake hatte gleich mehrere Armschichten. Eine Schicht war weit unten, knapp dreißig Zentimeter über dem Boden. Eine zweite befand sich in Brusthöhe; die dritte und die vierte Schicht waren höher, über meinem Kopf. Und sie alle glühten, funkelten hell.