In Wahrheit sah ich das keineswegs so. Mehr und mehr betrachtete ich das Haus als mein Haus, die Kinder als meine Kinder. Sie platzte spätabends in mein Haus, nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass alles ruhig war, so wie ich es mochte, wie es sein sollte. Und sie machte ein Heidentheater.
Ich fand überhaupt nicht, dass sie Recht hatte. Ich fand, sie hatte Unrecht.
Und in den vergangenen Wochen war mir aufgefallen, dass sich Vorfälle dieser Art häuften. Zunächst glaubte ich, Julia hätte ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel weg war. Dann glaubte ich, sie wollte ihre Position verteidigen, die Kontrolle über einen Haushalt zurückgewinnen, der mir in die Hände gefallen war. Und dann glaubte ich, es läge daran, dass sie müde war oder in der Firma so stark unter Druck stand.
Doch in letzter Zeit merkte ich selbst, dass ich Entschuldigungen für ihr Verhalten suchte. Mich beschlich das Gefühl, Julia hatte sich verändert. Sie war anders, irgendwie angespannter, härter.
Die Kleine brüllte aus vollem Halse. Ich hob sie aus dem Bettchen, nahm sie auf den Arm, sprach beruhigend auf sie ein und schob gleichzeitig einen Finger hinten in die Windel, um zu sehen, ob sie nass war. Sie war nass. Ich legte meine Tochter auf die Wickelkommode, und sie brüllte wieder, bis ich ihre Lieblingsrassel schüttelte und sie ihr in die Hand gab. Da wurde sie ruhig und ließ sich ohne viel Gestrampel von mir die Windel abnehmen.
»Ich mach das«, sagte Julia und trat ins Zimmer.
»Ist schon gut.«
»Ich hab sie aufgeweckt, also mach ich das auch.«
»Wirklich Schatz, es ist kein Problem.«
Julia legte eine Hand auf meine Schulter, küsste mir den Nacken. »Tut mir Leid, dass ich mich so idiotisch aufführe. Ich bin hundemüde. Ich weiß nicht, was mich vorhin geritten hat. Lass mich die Windel wechseln, ich krieg meine Kleine ja kaum zu sehen.«
»Okay«, sagte ich. Ich machte Platz, und sie trat an meine Stelle.
»Hi, mein süßes Stinkerlein«, sagte sie und fasste der Kleinen zärtlich unters Kinn. »Wie geht's denn meinem Knubbel-Bubbel?« Bei so viel Zuwendung fiel unserer Tochter die Rassel aus der Hand, und dann fing sie an zu schreien und drehte sich auf der Kommode weg. Julia merkte nicht, dass die fehlende Rassel der Grund für das Gebrüll war; stattdessen gab sie beruhigende Laute von sich und mühte sich ab, die neue Windel anzulegen, was schwer war, da das Baby sich wand und strampelte. »Amanda, lass das!«
Ich sagte: »Das macht sie zurzeit.« Und das stimmte auch; Amanda war in der Phase, in der sie sich aktiv gegen das Windelwechseln wehrte. Und sie konnte ziemlich fest treten.
»Egal, sie soll aufhören. Lass das!«
Das Baby schrie lauter, versuchte, sich wegzudrehen. Einer der Klebeverschlüsse riss ab. Die Windel rutschte nach unten. Amanda rollte sich jetzt auf den Rand der Kommode zu. Julia zog sie grob zurück. Amanda strampelte weiter.
»Verdammt noch mal, lass das sein, hab ich gesagt!«, fauchte Julia und gab dem Baby einen Klaps aufs Bein. Das Baby schrie lauter, trat noch fester. »Amanda! Lass das! Lass das!« Sie schlug sie erneut. »Lass das! Lass das!«
Einen Augenblick lang reagierte ich nicht. Ich war fassungslos. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. »Schatz ...«, sagte ich und beugte mich vor, »nicht doch, wie wär's ...«
Julia explodierte. »Verdammt noch mal, wieso mischst du dich eigentlich dauernd ein?«, brüllte sie und schlug klatschend auf die Kommode. »Was hast du für ein verdammtes Problem?«
Und dann stürmte sie aus dem Zimmer.
Ich atmete tief durch und nahm das Baby hoch. Amanda brüllte untröstlich, vor Verwirrung und vor Schmerz gleichermaßen. Ich dachte mir, dass ich ihr ein Fläschchen geben müsste, damit sie wieder einschlief. Ich streichelte ihr den Rücken, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Dann machte ich ihr die Windel richtig zu und ging mit ihr in die Küche, wo ich das Fläschchen aufwärmte. Das Licht war gedämpft, nur die Leuchtstofflampen über der Frühstückstheke brannten.
Julia saß am Tisch, trank Bier aus der Flasche und starrte ins Leere. »Wann suchst du dir endlich einen Job?«, fragte sie.
»Ich bemüh mich.«
»Wirklich? Davon merk ich aber nichts. Wann hattest du dein letztes Vorstellungsgespräch?«
»Vergangene Woche«, sagte ich.
Sie schnaubte. »Ich wünschte, du würdest dich etwas beeilen«, sagte sie, »mich treibt nämlich die Situation hier langsam in den Wahnsinn.«
Ich schluckte meine Wut hinunter. »Ich weiß. Es ist für uns alle schwer«, sagte ich. Es war schon spät, und ich hatte keine Lust mehr zu streiten. Aber ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
Mit ihren sechsunddreißig Jahren war Julia eine auffallend hübsche Frau, zierlich, mit dunklem Haar und dunklen Augen, Stupsnase und einem Naturell, das von vielen als temperamentvoll oder spritzig bezeichnet wurde. Ganz im Gegensatz zu vielen Managern in der Branche war sie attraktiv und umgänglich. Sie schloss leicht Freundschaften und hatte Humor. Vor Jahren, als Nicole noch ganz klein war, erzählte Julia manchmal, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, umwerfend komisch von den kleinen Schwächen ihrer Investoren. Wir saßen an genau diesem Küchentisch und lachten bis zum Umfallen, während die kleine Nicole sie am Arm zog und sagte: »Was ist so lustig, Mom? Was ist so lustig?« Sie wollte gern mitlachen. Natürlich konnten wir ihr nicht erklären, was so lustig war, aber Julia schien immer noch irgendwas Lustiges auf Lager zu haben, damit auch Nicole lachen konnte. Julia hatte eine echte Gabe, die humorvolle Seite des Lebens zu sehen. Sie war bekannt für ihre Ausgeglichenheit; sie verlor so gut wie nie die Beherrschung.
Jetzt war sie selbstverständlich wütend. Wollte mich nicht einmal anschauen. Sie saß im Dunkeln an dem runden Küchentisch, ein Bein über das andere geschlagen und ungeduldig damit wippend, während sie ins Nichts starrte. Als ich sie ansah, hatte ich das Gefühl, ihr Äußeres hätte sich irgendwie verändert. Natürlich hatte sie in letzter Zeit abgenommen, durch den Stress im Job. Eine gewisse Weichheit in ihrem Gesicht war verschwunden; die Wangenknochen traten stärker hervor, das Kinn wirkte spitzer. Sie sah dadurch härter aus, aber irgendwie noch schöner.
Auch ihre Kleidung war anders. Julia trug einen dunklen Rock und eine weiße Bluse, sozusagen das Standardoutfit für Managerinnen. Aber der Rock war enger als gewöhnlich. Und durch ihren wippenden Fuß wurde ich auf die Slingpumps aufmerksam. Früher hatte sie die mal als Aufreißschuhe bezeichnet. Schuhe, die sie nie zur Arbeit anziehen würde.
Und dann begriff ich, dass alles an ihr anders war - ihr Verhalten, ihr Aussehen, ihre Stimmung, alles -, und blitzartig wurde mir klar, warum: Meine Frau hatte eine Affäre.
Das Wasser im Topf fing an zu dampfen, und ich zog das Fläschchen heraus, testete die Temperatur an meinem Unterarm. Es war zu heiß geworden, und ich musste es einen Moment abkühlen lassen. Das Baby begann zu schreien, und ich schaukelte es sachte an meiner Schulter, während ich mit ihm durch den Raum ging.
Julia blickte mich kein einziges Mal an. Sie wippte bloß weiter mit dem Fuß und starrte ins Leere.
Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass das ein Syndrom war. Der Mann ist arbeitslos, seine maskuline Attraktivität schwindet, seine Frau hat keinen Respekt mehr vor ihm, sie nimmt sich einen Liebhaber. Ich hatte das in Glamour oder Redbook oder einer der anderen Zeitschriften gelesen, die wir zu Hause haben, während ich darauf wartete, dass die Wäsche fertig wurde oder die Mikrowelle den Hamburger aufgetaut hatte.
Aber jetzt durchfluteten mich widerstreitende Gefühle. War es wirklich wahr? Oder war ich bloß müde und fantasierte mir schlechte Geschichten zusammen? Was spielte es für eine Rolle, dass sie engere Röcke und andere Schuhe trug? Die Mode änderte sich. Menschen hatten an unterschiedlichen Tagen unterschiedliche Stimmungen. Und nur weil sie manchmal verärgert war, musste sie noch lange keine Affäre haben. Natürlich nicht. Wahrscheinlich fühlte ich mich bloß unzulänglich, unattraktiv. Wahrscheinlich traten nur meine Unsicherheiten zum Vorschein. Eine Weile verliefen meine Gedanken in dieser Bahn.