»Jesses«, sagte Rosie.
Erschrocken sah ich, dass das Fleisch nicht mehr glatt und rosa war. Stattdessen war es überall aufgeraut, und an manchen Stellen sah es aus, als wäre es abgeschabt worden. Und es war mit einer milchig weißen Schicht bedeckt.
»Sieht aus, als wäre es in Säure getaucht worden«, sagte Charley.
»Ja, stimmt«, sagte Mae. Sie hörte sich grimmig an.
Ich sah auf meine Uhr. Das Ganze war innerhalb von zwei Stunden geschehen. »Was ist da passiert?«
Mae hatte ihr Vergrößerungsglas hervorgeholt und beugte sich jetzt über das Tier. Sie sah sich verschiedene Stellen an, bewegte das Glas rasch. Dann sagte sie: »Es ist zum Teil aufgefressen worden.«
»Aufgefressen? Von wem?«
»Von Bakterien.«
»Moment mal«, sagte Charley Davenport. »Du denkst, das hier hat Theta-d gemacht? Du denkst, die E. coli fressen es auf?«
»Das werden wir früh genug erfahren«, sagte sie. Sie griff in einen Beutel und holte mehrere Glasröhrchen mit sterilen Abstrichtupfern darin hervor.
»Aber es ist doch erst kurze Zeit tot.«
»Lange genug«, sagte Mae. »Und hohe Temperaturen beschleunigen das Wachstum.« Sie strich nacheinander mit den Tupfern über das tote Tier und steckte sie wieder in die Glasröhrchen.
»Dann muss Theta-d sich ja wahnsinnig aggressiv vermehren.«
»Wie alle Bakterien bei einer guten Nährstoffquelle. Sie wechseln in die Log-Phase, wo sie sich alle zwei oder drei Minuten um das Doppelte vermehren. Ich glaube, das ist hier der Fall.«
Ich sagte: »Aber wenn das stimmt, heißt das, der Schwarm ...«
»Ich weiß nicht, was das heißt, Jack«, entgegnete sie rasch. Sie sah mich an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Die Bedeutung war klar: Jetzt nicht.
Aber die anderen ließen sich nicht vertrösten. »Mae, Mae, Mae«, sagte Charley Davenport. »Soll das heißen, die Schwärme haben das Kaninchen getötet, um es zu fressen? Um noch mehr Coli wachsen zu lassen? Und noch mehr Na-noschwärme zu schaffen?«
»Das habe ich nicht gesagt, Charley.« Ihre Stimme war ruhig, fast besänftigend.
»Aber du glaubst es«, fuhr Charley fort. »Du glaubst, die Schwärme verzehren Säugetiergewebe, um sich zu vermehren .«
»Ja. Das glaube ich, Charley.« Mae verstaute ihre Proben sorgfältig und stand auf. »Aber jetzt haben wir Kulturen genommen. Wir testen sie mit Luria und Agarose, und dann wissen wir's genau.« »Ich wette, wenn wir in einer Stunde wiederkommen, ist von dem weißen Zeug nichts mehr da, und wir sehen, wie sich auf dem ganzen Körper was Schwarzes bildet. Neue schwarze Nanopartikel. Und irgendwann wird es dann für einen neuen Schwarm reichen.«
Sie nickte. »Ja. Das denke ich auch.«
»Und deshalb sind hier in der Gegend alle Tiere verschwunden?«, sagte David Brooks.
»Ja.« Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. »Das geht schließlich schon eine ganze Weile so.«
Einen Moment lang sagte keiner etwas. Wir standen alle um den Kaninchenkadaver herum, mit dem Rücken zum Wind. Der Kadaver wurde so rasch verzehrt, dass ich es fast sehen konnte, in Echtzeit.
»Kommt, wir machen jetzt den verdammten Schwärmen den Garaus«, sagte Charley.
Wir drehten uns alle um und gingen in Richtung Depot.
Niemand sprach.
Es gab nichts zu sagen.
Plötzlich flogen ein paar kleine Vögel auf, die unter den Feigenkakteen herumgehüpft waren, und kreisten zwitschernd vor uns durch die Luft.
Ich sagte zu Mae: »Es gibt keine Säugetiere mehr, aber die Vögel sind noch da?«
»Sieht so aus.«
Die Vögel landeten schließlich gut hundert Schritte von uns entfernt.
»Vielleicht sind sie den Schwärmen einfach zu klein«, sagte Mae. »Nicht genug Fleisch an den Knochen.«
»Vielleicht.« Mir kam noch eine andere Antwort in den Sinn. Aber um sicherzugehen, würde ich den Code überprüfen müssen.
Ich trat von der Sonne in den Schatten des Wellblechunterstandes und ging an den geparkten Autos vorbei auf die Tür des Depots zu. Sie war mit Warnsymbolen übersät - radioaktive Strahlung, biochemische Gefahren, Mikrowellen, hochexplosive Stoffe, Laserstrahlung. Charley sagte: »Da sieht man, warum wir den ganzen Mist in sicherer Entfernung aufbewahren.«
Plötzlich sagte Vince: »Jack, ein Anruf für Sie. Ich stell durch.« Mein Handy klingelte. Es war wahrscheinlich Julia. Ich meldete mich. »Hallo?«
»Dad.« Es war Eric. Mit dem emphatischen Tonfall, den er an sich hatte, wenn er aufgeregt war.
Ich seufzte. »Ja, Eric.«
»Wann kommst du nach Hause?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Bist du zum Abendessen da?«
»Ich fürchte, nein. Wieso? Ist was nicht in Ordnung?«
»Sie ist so ein Riesenarschloch.«
»Eric, sag mir einfach, was los ist .«
»Tante Ellen hält dauernd zu ihr. Das ist gemein.«
»Ich bin gerade ziemlich beschäftigt, Eric, also sag mir einfach .«
»Wieso? Was machst du denn?«
»Eric, sag mir bitte, was los ist.«
»Schon gut«, sagte er plötzlich schmollend, »wenn du sowieso nicht nach Hause kommst, ist es auch egal. Wo bist du denn eigentlich? Bist du in der Wüste?«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Ich hab mit Mom gesprochen. Wir mussten sie im Krankenhaus besuchen, Tante Ellen wollte, dass wir mitkommen. Das fand ich blöd. Ich hatte gar keine Lust. Aber ich musste mit.«
»Verstehe. Wie geht's Mom?«
»Sie kommt aus dem Krankenhaus.«
»Hat sie alle Untersuchungen gemacht?«
»Die Ärzte wollten sie dabehalten«, sagte Eric. »Aber sie will raus. Sie hat einen Arm in Gips, mehr nicht. Sie sagt, sonst fehlt ihr nichts. Dad? Wieso muss ich auf Tante Ellen hören? Das ist gemein.«
»Hol Ellen mal ans Telefon.«
»Sie ist nicht da. Sie kauft mit Nicole ein neues Kleid für das Theaterstück.«
»Wer ist denn bei dir zu Hause?«
»Maria.«
»Okay«, sagte ich. »Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?«
»Noch nicht.«
»Dann aber avanti. Ich möchte, dass du sie vor dem Abendessen fertig hast.« Es war verblüffend, wie automatisch einem Vater oder einer Mutter solche Sätze von der Zunge gingen.
Inzwischen war ich an der Tür zum Depot. Ich blickte auf die vielen Warnzeichen. Einige davon kannte ich nicht, zum Beispiel eine Raute mit vier verschiedenfarbigen Quadraten drin, jedes mit einer Zahl. Mae schloss die Tür auf und ging hinein.
»Dad?« Eric fing an zu weinen. »Wann kommst du denn nach Hause?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte ich. »Ich hoffe, morgen.«
»Okay. Versprochen?«
»Versprochen.«
Ich konnte ihn schniefen hören, und dann kam durchs Telefon ein lang gezogenes Wrraff-Geräusch, als er sich die Nase am Ärmel abwischte. Ich sagte, er könne mich später noch einmal anrufen, wenn er wolle. Er klang besser und sagte, okay, und dann verabschiedete er sich.
Ich klappte das Handy zu und betrat das Depot.
Das Innere war in zwei große Lagerräume unterteilt, die beide an allen vier Wänden Regale und in der Mitte frei stehende Regale hatten. Beton wände, Betonboden. Im zweiten Raum gab es noch eine Tür und eine Wellblechrolltür für LkwLieferungen. Heißes Sonnenlicht fiel durch Fenster mit Holzrahmen. Die Klimaanlage dröhnte zwar laut, aber, wie Mae gesagt hatte, es war trotzdem heiß. Ich schloss die Tür hinter mir und sah mir die Dichtung an. Es war bloß eine normale Gummidichtung. Das Depot war eindeutig nicht luftdicht.
Ich ging an den Regalen entlang, in denen Kisten mit Ersatzteilen für die Produktionsmaschinen und das Labor gestapelt waren. Der zweite Raum enthielt alltägliche Dinge: Putzmittel, Toilettenpapier, Seifenstücke, Schachteln mit Frühstücksflok-ken und zwei Kühlschränke voll mit Lebensmitteln.