Mae sagte: »Das hilft uns aber nicht weiter, Charley.«
»Scheiß drauf.«
Rosie sagte: »Charley, halt doch einfach mal 'ne Weile die Klappe, ja?«
Ich sah wieder David an, sprach ruhig auf ihn ein. »Sehr schön, David ... So ist gut, tief atmen ... Und jetzt lass den Türknauf los.«
David schüttelte den Kopf, weigerte sich, doch nun wirkte er verwirrt, unsicher, als wüsste er nicht mehr so recht, was er da eigentlich machte. Er blinzelte rasch mit den Augen. Als würde er aus einer Trance erwachen.
Ich sagte leise: »Lass den Türknauf los. Das bringt doch gar nichts.«
Schließlich ließ er los und setzte sich auf den Boden. Er fing an zu weinen, den Kopf in den Händen.
»Ach, Gott«, sagte Charley. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
»Halt den Mund, Charley.«
Rosie ging zum Kühlschrank und kam mit einer Flasche Wasser zurück. Sie gab sie David, der weinend daraus trank. Sie half ihm auf die Beine, gab mir mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sich um ihn kümmern würde.
Ich ging zurück in die Mitte des Raumes, wo die anderen inzwischen am Computerbildschirm standen. Der Monitor zeigte jetzt nicht mehr Codezeilen, sondern die Nordfassade des Hauptgebäudes. Vier Schwärme waren dort zu sehen, und sie bewegten sich silbern glänzend entlang des Gebäudes auf und ab.
»Was machen die da?«, fragte ich.
»Die wollen rein.«
Ich sagte: »Warum wollen sie das?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Mae.
Einen Moment lang sahen wir schweigend zu. Wieder war ich verblüfft, wie zielstrebig ihr Verhalten war. Sie erinnerten mich an Bären, die in einen Wohnwagen einbrechen wollen, um an die Lebensmittel zu kommen. Sie verharrten an jeder Tür und an jedem geschlossenen Fenster, schwebten davor, bewegten sich an den Dichtungen auf und ab und strebten schließlich eine Öffnung weiter.
Ich sagte: »Und verhalten die sich an den Türen immer so?«
»Ja. Wieso?«
»Weil es so aussieht, als würden sie sich nicht erinnern, dass die Türen abgedichtet sind.«
»Nein«, sagte Charley. »Sie können sich nicht erinnern.«
»Weil sie nicht genug Speicher haben?«
»Entweder das«, sagte er, »oder das da ist eine andere Generation.«
»Du meinst, das sind neue Schwärme seit heute Mittag?«
»Ja.«
Ich sah auf meine Uhr. »Alle drei Stunden eine neue Generation?«
Charley zuckte die Achseln. »Genau weiß ich das nicht. Wir haben bisher nicht herausgefunden, wo sie sich vermehren. Das ist bloß meine Vermutung.«
Die Möglichkeit, dass so schnell neue Generationen entstanden, bedeutete, dass auch der in den Code eingebaute Evolutionsmechanismus - wie auch immer der aussehen mochte -schnell voranschritt. Genetische Algorithmen - die die Reproduktion simulierten, um zu Lösungen zu gelangen - bewegten sich für gewöhnlich zwischen fünfhundert und fünftausend Generationen, um eine Optimierung zu erreichen. Wenn diese Schwärme sich alle drei Stunden vermehrten, dann hatten sie in den vergangenen zwei Wochen um die hundert Generationen hervorgebracht. Und deshalb musste das Verhalten nun schon um einiges präziser sein.
Mae beobachtete sie auf dem Monitor und sagte: »Wenigstens bleiben sie beim Hauptgebäude. Anscheinend wissen sie nicht, dass wir hier sind.«
»Woher sollen sie das auch wissen?«, fragte ich.
»Das können sie nicht«, sagte Charley. »Ihr Hauptsinn ist das Sehen. Kann sein, dass sie im Laufe der Generationen auch ein bisschen Hörfähigkeit erworben haben, aber in erster Linie ist es nach wie vor das Sehen. Was sie nicht sehen, existiert für sie nicht.«
Rosie kam mit David zu uns. Er sagte: »Tut mir schrecklich Leid, Leute.«
»Kein Problem.«
»Schon gut, David.«
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war wohl einfach zu viel für mich.«
Charley sagte: »Vergiss es, David. Wir verstehen das. Du bist nun mal ein Psychopath, und du bist durchgedreht. Wir wissen das. Kein Problem.«
Rosie legte einen Arm um David, der sich laut die Nase putzte. Sie blickte auf den Monitor. »Wie sieht's denn da draußen aus?«, fragte sie.
»Scheint so, als wüssten sie nicht, dass wir hier sind.«
»Gut .«
»Wir hoffen, dass das so bleibt.«
»Klar. Und wenn nicht?«, sagte Rosie.
Ich hatte darüber nachgedacht. »Wenn nicht, bauen wir auf die Löcher in den predprey-Annahmen. Wir nutzen die Schwächen in der Programmierung aus.«
»Und das bedeutet?«
»Wir schwärmen«, sagte ich.
Charley stieß ein wieherndes Lachen aus. »Ja, klar, wir schwärmen - und beten auf Teufel komm raus.«
»Das ist mein voller Ernst«, sagte ich.
In den vergangenen dreißig Jahren hatten Wissenschaftler die Räuber-Beute-Interaktionen bei allen möglichen Säugetieren und Insekten studiert, vom Löwen über die Hyäne bis hin zur Wanderameise. Inzwischen durchschaute man sehr viel besser, wie Beutetiere sich schützten. Zebras und Karibus zum Beispiel lebten nicht in Herden, weil sie gesellig waren, sondern weil die Herde Schutz vor Räubern bot. Bestand die Herde aus vielen Tieren, so war das gleichbedeutend mit erhöhter Wachsamkeit. Und angreifende Räuber waren häufig verwirrt, wenn die Tiere in alle Richtungen flohen. Manchmal blieben sie einfach stehen. Ein Räuber, dem zu viele bewegliche Ziele geboten wurden, verfolgte oft gar keines.
Das Gleiche galt für Vogel- und Fischschwärme - bei koordinierten Gruppenbewegungen fiel es Räubern schwerer, ein einzelnes Opfer herauszupicken. Räuber griffen vor allem Tiere an, die sich in irgendeiner Weise von der Masse abhoben. Das war ein Grund dafür, warum sie so häufig Jungtiere auswählten - nicht bloß weil sie leichter zu erbeuten waren, sondern auch, weil sie anders aussahen. Und Räuber töteten mehr männliche als weibliche Tiere, weil sich besonders nichtdominante Männchen eher am Rand der Herde aufhielten, wo sie auffälliger waren.
Als Hans Kruuk vor dreißig Jahren in der Serengeti Hyänen studierte, fand er heraus, dass ein Tier, nachdem man es mit Farbe markiert hatte, beim nächsten Angriff garantiert getötet wurde. So stark war die Macht des Unterschieds.
Die Botschaft war also ganz einfach. Zusammenbleiben. Gleich bleiben.
Das war unsere größte Chance.
Aber ich hoffte, dass es nicht so weit kommen würde.
Die Schwärme verschwanden für eine Weile. Sie waren jetzt auf der anderen Seite des Laborgebäudes. Wir warteten nervös. Schließlich tauchten sie wieder auf. Erneut bewegten sie sich an der Längsseite des Gebäudes entlang, überprüften eine Maueröffnung nach der anderen.
Wir alle schauten auf dem Monitor zu. David Brooks war in Schweiß gebadet. Er wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab. »Wie lange wollen die das denn noch machen?«
»Solange sie Lust haben«, erwiderte Charley.
Mae sagte: »Zumindest, bis der Wind wieder stärker wird. Und danach sieht es im Moment nicht aus.«
»Herrgott«, sagte David. »Wie könnt ihr das bloß aushalten.«
Er war bleich; Schweiß war ihm von den Augenbrauen auf die Brillengläser getropft. Er sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Ich sagte: »David. Möchtest du dich hinsetzen?«
»Ist vielleicht besser.«
»Okay.«
»Komm, David«, sagte Rosie. Sie führte ihn zum Waschbek-ken und setzte ihn auf den Boden. Er umklammerte seine Knie, stützte den Kopf darauf. Rosie befeuchtete ein Papiertaschentuch mit kaltem Wasser und legte es ihm in den Nacken. Ihre Gesten waren zärtlich.
»Diese Memme«, sagte Charley kopfschüttelnd. »So was hat uns gerade noch gefehlt.«
»Charley«, sagte Mae, »das ist wirklich nicht gerade hilfreich ...«
»Na und? Wir sitzen in diesem verdammten Schuppen in der Falle, luftdicht ist er auch nicht, wir können gar nichts machen, können nirgendwohin, und der Typ da knallt durch, macht alles noch schlimmer.«